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Die Geisteswissenschaften zwischen Werteneutralität und gesellschaftlichem Impact

Marlene Iseli
Pertinence sociale Qualitäts- und Leistungsbeurteilung Gesellschaftliche Relevanz

Den Geisteswissenschaften wird vieles vorgeworfen: nicht wertneutral, methodenfixiert, irrelevant. Zeit für eine erste frei gedachte Auseinandersetzung.

«Verbissen ringen die Geisteswissenschaften um ihre wissenschaftlichen Standards, während sie dieselben jedoch zugleich ständig untergraben. Ihre Zukunft liegt aber womöglich ohnehin eher ausserhalb als innerhalb des Elfenbeinturms.» (H.U. Gumbrecht, NZZ 29.10.2019)

«Die Gender-Studies wollen von akademischer Warte aus die Gesellschaft verändern. Dazu formulieren sie politische Ziele. Ist das noch linke Moral oder schon verordneter Feminismus?» (B. Schmid, NZZ 9.11.2019)

«Die konservativen und liberalen Akademiker sind chaotische Zeitgenossen und ziemlich mies in der akademischen Folgeplanung. Sie sind mit ihren Studien beschäftigt, schreiben Bücher und kümmern sich kaum um Machtpolitik. Anders die sogenannt Progressiven – sie sind oftmals die eigentlichen Karrieristen, und ihre Schriften dienen ihnen bloss als Mittel zum Zweck.» (N. Ferguson, NZZ 20.3.2019)

Ende Jahr zieht man gerne mal Bilanz, Anfang Jahr geht man die Dinge an. Erneut stehen alte und neue Vorwürfe gegen die Geisteswissenschaften in der öffentlichen Debatte, die man gerne ignorieren, oder aber entgegennehmen und überdenken kann. Hier eine Liste einer Auswahl von Vorwürfen, wie sie gegenüber den Geisteswissenschaften allgemein oder aber einzelnen Disziplinen – prototypischerweise gegenüber den Gender-Studies – formuliert werden:

  • Die Geisteswissenschaften sind nicht werteneutral.
  • Die Geisteswissenschaften betreiben innerhalb und befeuern ausserhalb des akademischen Systems eine linke Machtpolitik.
  • Die Geisteswissenschaften sind Ursprung und Katalysator einer freiheitsgefährdenden politischen Korrektheit und einer obsessiven Minderheitspolitik.
  • Die Geisteswissenschaften betreiben eine leere Professionalisierung.
  • Die Geisteswissenschaften sind methodenfixiert.
  • Die Geisteswissenschaften sind irrelevant.
  • Die Geisteswissenschaften sind allzu engagiert in der Gestaltung der Gesellschaft.
  • Die Geisteswissenschaften verhindern freies Denken und echte Diversität.
  • Die Geisteswissenschaften schaffen sich selbst ab.
  • Die Geisteswissenschaften sind nicht am Puls der Zeit.

In der Auseinandersetzung mit diesen teils zusammenhängenden, teils widersprüchlichen Vorwürfen drängen sich einige Fragen auf:

  • Wo fängt Wissenschaftlichkeit an und wo hört sie auf? Gibt es eine «objektiv-neutrale» Wissenschaft ohne Prämissen?
  • Welcher gesellschaftliche Beitrag wird von den Wissenschaften erwartet? Wie wird er idealtypisch eingelöst?
  • Wer entscheidet über die Relevanz von Wissen?
  • Sind Phänomene in den USA Vorboten für die Schweiz und lässt sich ein Diskurs so direkt importieren?
  • Wie interagieren Zeitgeist sowie gesellschaftliche Wertesysteme und die Wissenschaften? Wie frei sind Forschende in der Identifikation ihrer Fragestellungen in einem anreizdominierten System?

Ihre Antworten auf diese Fragen, Ihre Einschätzungen zur skizzierten Kritik, Ihre Erwartungen an die Geisteswissenschaften interessieren uns. Sie können Ihre Meinung als Kommentar platzieren oder aber eine Eingabe für den Blog vorschlagen.

Wer sich für eine erste frei gedachte Auseinandersetzung mit diesem Ausgangspunkt interessiert, der lese hier weiter. Ich habe diesen Text im November des letzten Jahres verfasst als Replik auf bezeichnete Artikel im NZZ-Feuilleton. Einige der blog-konformen Bulletpoints werden in diesem geisteswissenschaftskonformen Fliesstext mit mehrfachen Rückbezügen ausgeführt.