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Jugendlicher Protest in der Populärkultur

Christine Lötscher, Universität Zürich
Gesellschaft – Kultur – Sprache

Die Diskussion um die Ausschreitungen in St. Gallen zeichnet ein paradoxes Bild von «Jugend und Rebellion». Davon zeugt auch die aktuelle Populärkultur.

Seit den Ausschreitungen von Jugendlichen in St. Gallen reisst die Diskussion über «die Jugend» nicht mehr ab. Auf der einen Seite wird eine verlorene Generation beklagt, die, zuhause eingesperrt, ihre Jugend vor dem Bildschirm vergeudet, anstatt sich mit Gleichaltrigen zu treffen und Erfahrungen zu sammeln, die später im Leben nicht mehr möglich sind. Umgekehrt wird jungen Menschen vorgeworfen, sie würden, verwöhnt und privilegiert, wie sie seien, auf hohem Niveau jammern.

Aus kulturanalytischer Sicht ist die aktuelle Diskussion äusserst interessant. Denn darin zeigt sich eine paradoxe Haltung gegenüber jungen Menschen, die nicht neu ist. Jugend und Jungsein werden als eines der höchsten Güter idealisiert. Gleichzeitig ist die Kritik an der «Jugend von heute» keineswegs verschwunden. Sie entzündet sich – auch dies ist nicht neu – vor allem an medialen Praktiken, wobei Instagram und TikTok besonders unter Beschuss sind.

Denn wie die Diskussionen in den Medien sind auch Jugendromane, Teenie-Serien und Coming-of-Age-Filme von Erwachsenen gemacht – für Jugendliche, aber nicht nur.

In der Populärkultur lassen sich diese Widersprüche schon seit über einem Jahrzehnt beobachten. Denn wie die Diskussionen in den Medien sind auch Jugendromane, Teenie-Serien und Coming-of-Age-Filme von Erwachsenen gemacht – für Jugendliche, aber nicht nur. Insofern verhandeln sie vor allem die Projektionen auf Jugend, die Sehnsüchte, Ängste und Ansprüche, die eine Gesellschaft an der jungen Generation festmacht.

Selbstoptimierte Jugendliche retten die Gesellschaft?

Jugendlicher Protest ist jedenfalls ein hochaktuelles Thema. Seit dem Erfolg von Suzanne Collins’ «Hunger-Games»-Reihe und deren Filmadaptionen gehört Future Fiction für Jugendliche zu den erfolgreichsten Genres. Häufig treten junge Protagonist:innen gegen Diktaturen an oder beweisen, wie man nach einer Katastrophe – sei sie durch Krieg oder Klimawandel bedingt – nicht nur überleben, sondern auch eine Gesellschaft mit anderen Werten installieren kann. Die jugendlichen Figuren werden in diesen Erzählungen von Opfern eines menschenverachtenden Systems zu resilienten, selbstverantwortlichen Subjekten umgeschrieben, was auf den ersten Blick erfreulich emanzipatorisch erscheint. Wie problematisch das Konzept der Resilienz aber sein kann, hat die Historikerin Svenja Goltermann aufgezeigt. Es birgt die Erwartung in sich, dass jeder und jede Krisen und Traumata nicht nur aus eigener Kraft bewältigt, sondern sogar gestärkt daraus hervorgeht. Und diese Erwartung bringt wiederum die Gefahr mit sich, dass gesellschaftliche Verantwortung auf die Einzelnen abgeschoben wird.

Das Konzept der Resilienz [...] birgt die Erwartung in sich, dass jeder und jede Krisen und Traumata nicht nur aus eigener Kraft bewältigt, sondern sogar gestärkt daraus hervorgeht.

Bei den dystopischen Erzählungen gibt es aber auch eine andere Seite: Viele dieser Romane und Filme haben einen experimentellen, theoretischen Aspekt, indem sie davon erzählen, wie Gesellschaft überhaupt entsteht – dass sie nicht a priori gegeben ist, sondern aus ganz konkreten Bedingungen hervorgeht. Nebenbei wird auch die Kategorie des Alters in Frage gestellt. Sie erscheint als ebenso konstruiert wie Geschlecht, «Rasse» und Klasse, wenn junge Menschen, die in unserer Gesellschaft noch nicht einmal volljährig wären, die Verantwortung für das grosse Ganze übernehmen.

Die doppelte, zuweilen paradoxe Codierung von jugendlichen Protagonist:innen als wilde, widerständige Avantgarde einer besseren Welt und als perfekt sich selbst optimierende Rädchen in einem System, das letztlich doch nicht hinterfragt wird, tritt in einem anderen Genre noch weit deutlicher zutage: in realistischen Coming-of-Age-Erzählungen. Diese sind im Begriff, den Dystopien den Rang abzulaufen, was ihre Popularität betrifft. Das hat damit zu tun, dass sie Diversity auf ihre Fahnen geschrieben haben und Anliegen der #metoo- sowie der #blacklifesmatter-Bewegungen aufnehmen. Rebellische Jugendliche sind nach wie vor, ganz wie in den klassischen Coming-of-Age-Romanen, Individualist:innen. Sie suchen extreme Erfahrungen und wollen aus der Spiesserwelt ihrer Eltern, die sie aber irgendwie ganz cool finden, ausbrechen. Einzelkämpfer sind sie in der aktuellen Populärkultur nie; ihr Widerstand ist dabei mit Analyse und Kritik der patriarchalen, strukturell rassistischen und sexistischen Gesellschaft verbunden.

Protestieren mit Samthandschuhen

Das jüngste Beispiel ist Amy Poehlers Film «Moxie» (USA 2021), der auf Netflix zu sehen ist. Erzählt wird, wie die 16jährige Vivian von der braven Streberin zur Anführerin einer intersektional-feministischen Revolte an ihrer High School wird. Inspiriert von der Riot-Grrrl-Bewegung der 90er-Jahre – ihre Pamphlete schreibt sie zum Punk von Bikini Kill –, sorgt sie dafür, dass erstmals nicht der reiche, weisse Schnösel den Preis als bester Sportler des Jahres bekommt, sondern die Schwarze Captain des Mädchen-Footballteams. Ähnliche Konstellationen findet man in US-Serien zuhauf; der Widerstand gegen verknöcherte High School-Strukturen ist ein bewährter Topos des Genres. Er findet sich aber nicht nur in US-Produktionen. Die britische Netflix-Serie «Sex Education» spielt in einer ähnlichen Konstellation; der Unterschied liegt vor allem im ästhetischen Modus.

Während «Moxie» und viele US-Serien trotz Comedy-Anspruch nie ihre pädagogisch-didaktischen Anliegen aus den Augen verlieren (und deshalb auch ein wenig langweilig sind), ist «Sex Education» frech und transgressiv – und zwar nicht nur auf der Ebene der Figuren und ihrer sexuellen Vorlieben, sondern im Spiel mit allem, was schwarzer Humor, Groteske und Nonsens zu bieten haben. Die Rebellion bricht aus, als sich die ganze Schule mit einer Schülerin solidarisiert, von der ein pornografisches Bild in Social Media zirkuliert. Als der Schulleiter die betroffene junge Frau vor versammelter Schüler:innenschaft auffordert, sich zu «stellen», anstatt sich auf die Suche nach den Tätern zu machen, wehren sich ihre Freundinnen. «It’s my vagina», sagt die erste, und eine nach der anderen steht auf und ruft: «no, it’s my vagina” – bis alle Schüler:innen in den Chor einstimmen, egal, welchen Geschlechts.

Wer rebelliert, ist in diesen Serien vor allem eins: cool. Die Aktionen gegen verknöcherte Lehrpersonen folgen dem Groove der Musik, die sie begleitet. Alles ist Punk oder Hip Hop, und der erste Kuss, der erste Sex so gut wie garantiert. So befreiend und anarchisch das Gefühl sein mag, das über die Zuschauer:innen kommt, wenn die Jugendlichen im Chor «it’s my vagina» rufen, so zufrieden kehrt die Welt, um ein paar fiese Schulleiter ärmer, nach dem Abspann in ihre alten Bahnen zurück. Der Gedanke, dass mehr Diversity auch mehr soziale Gerechtigkeit implizieren müsste, bleibt aussen vor. Die Inszenierung des jugendlichen Protests in den meisten populären Coming-of-Age-Erzählungen tut gut und macht gute Laune – weh tut er aber niemandem.

Die Autorin: Prof. Dr. Christine Lötscher

Christine Lötscher ist Professorin für Populäre Literaturen und Medien mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendmedien am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft ISEK – Populäre Kulturen der Universität Zürich.

Bildquellen

Titelbild: Juso Schweiz via flickr, CC BY 2.0

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Dies ist eine Open-Access-Publikation, lizenziert unter CreativeCommons CC BY-SA 4.0.

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