Tagung 2010

Jahrestagung 2010 der Schweizerischen Gesellschaft für Kulturtheorie und Semiotik

"VERGESSEN - LEERZEICHEN DES DENKENS ?"

Samstag, 24. April 2010
Universität Zürich, Philosophisches Seminar, Zollikerstrasse 117, 8008 Zürich (Kutscherhaus)

 

Tagungsbericht (Programm s. unten)

»Der Name Lampe muss nun völlig vergessen werden.« Diesen seltsamen Satz schrieb der Aufklärer Kant auf einen Zettel, um sich seinen unbotmäßigen Diener (namens Lampe) aus dem Kopf zu schlagen. Der Satz auf einem Merkzettel ist doppelt merkwürdig. Offensichtlich kurios ist, dass sich hier einer daran erinnern möchte, dass er etwas unbedingt vergessen will. Das Denken behilft sich für ein vorsätzliches Denkverbot mit der Schrift auf einem Zettel. Und eben das macht Kants Denkzettel für eine Theorie der Kultur und speziell der Semiotik merk-würdig. Denn die erhoffte Leerstelle entsteht im Denken nicht einfach so. Sie soll be-wusst entstehen, und dafür wird eben jenes Zeichensystem eingesetzt, mit dem sich menschliche Kulturen seit Jahrtausenden ihre Erinnerung sichern: die Schrift. Kann ein Zeichen für eine Leerstelle im Denken einspringen? Kann es diese Leerstelle simulieren oder gar produzieren? Wie müsste ein solches Zeichen beschaffen sein? Und was wäre es dann, dieses Leerzeichen: ein leeres Zeichen? Ein Zeichen für Leere? Oder ein Zeichen zum Leeren?
Solchen Fragen, die Kants Merksatz provoziert, widmete sich der von Christine Abbt (Zü-rich) und Hans-Georg von Arburg (Lausanne) organisierte Studientag 2010 der Schweizeri-schen Gesellschaft für Kulturtheorie und Semiotik (früher: Schweizerische Gesellschaft für Semiotik). Im Zentrum standen nicht so sehr Kulturen und Techniken des Vergessens als sol-che. Es ging vielmehr um die speziellere Frage nach dem Vergessen als einer zeichengestütz-ten Kulturtechnik. Dabei wurde deutlich, dass Vergessen nicht nur eine Lücke im Gedächtnis einer Kultur bezeichnen kann. Das Vergessen stellt vielmehr das Funktionieren des kulturel-len Gedächtnisses selbst in Frage, welches noch sein Gegenteil aus sich heraus leisten können soll. Dieser Anspruch ist offenbar nur durch Zeichen operationalisierbar. Weil das Undenkba-re Zeichen braucht, um handhabbar zu werden, wird es unweigerlich auch wieder denkbar. Die Frage nach der besonderen Beschaffenheit von Zeichen für das denkbare Undenkbare mündete in den Diskussionen schließlich in die Frage nach der Natur des Zeichens überhaupt. Als eine sinnliche Marke repräsentiere ein Zeichen etwas Abwesendes, welches es für unser Denken präsent mache, sprich: repräsentiere. Ein Zeichen für das Vergessen dagegen könne (und wolle) das Abwesende gerade nicht repräsentieren, sondern umgekehrt unabweisbar ab-wesend halten.
Die Proben aufs Exempel für diese grundsätzlichen semiotischen Überlegungen lieferten vier Impulsreferate zu verschiedenen Aspekten des Problemzusammenhangs aus unterschied-lichen Fächern und Praxisbereichen. Der Germanist Hubert Thüring (Basel) erinnerte mit sei-nem Rückblick auf das Werk Friedrich Nietzsches an Grundlagentexte für die aktuelle Aus-einandersetzung mit dem Thema. Nietzsche versucht das Paradox, dass Zeichen, die ›für et-was stehen‹, zugleich ihr Verschwinden ›bedeuten‹ können, über das Moment der Zeitlichkeit aufzulösen. Dadurch wird Vergessen als Zeichenprozess fassbar, welcher wiederum nur als Gedächtnisprozess denkbar ist. Das Faszinierende an Nietzsches Nachdenken über das Ver-gessen ist freilich, wie das Thema hier von den frühen Arbeiten zur antiken Philosophie und Rhetorik über Geschichtsphilosophie, Psychologie und Physiologie bis zu den späten Dich-tungen niemals nur als Gegenstand einer Begriffsarbeit gedacht, sondern als eine Herausfor-derung an die eigene Schreibarbeit in Texten praktiziert und reflektiert wird. In einem zweiten Vortrag stellte die Historikerin Anna Joss (Zürich) das Tagungsthema in den Kontext histori-scher und aktueller Sammlungspraktiken von historischen Museen. Über Lücken in ihren Sammlungen wissen Konservatoren immer bestens Bescheid, sie gilt es instinktiv zu schlie-ßen. Die vergessen gegangenen Dinge dagegen sind die unbewussten Leerstellen des Sam-melns. Unbeachtet, aber körperlich wie räumlich präsent, bergen sie permanent die Möglich-keit, dass man wieder auf sie stößt. Wird man ihrer gewahr, dann zeigt sich, dass die Dinge nicht mehr dieselben sind wie zum Zeitpunkt ihres Vergessenwerdens. Wie irritierend die Zeichen für Leerstellen dieser Art sein können, ja in Anbetracht des abgründigen Wiederauf-findens sein müssen, belegte Joss mit einer Bestandsnotiz aus dem digitalisierten Museumsin-ventar des Schweizerischen Landesmuseums: »Weiße Masse in Glasbehälter«. Diese Perspek-tive der Sammlungspraxis nahm ein dritter Vortrag auf, in welchem Michael Schmid (Zürich) das Vergessen im Archiv aus kunsthistorischer Sicht thematisierte. Vergessen im Archiv kann dabei zweierlei bedeuten: Dokumente, die in die Archive eingehen, gehen oftmals vergessen und verschwinden so aus der Erinnerung, obwohl sie gerade dafür aufbewahrt wurden. Sie werden von einem Verwaltungsapparat verschluckt und sind diesem manchmal nur noch mit großer Mühe zu entreißen. Vergessen kann aber auch bedeuten, dass das Archiv das Verges-sen selber betreibt, indem es Dokumente gar nicht erst in seine Sammlung aufnimmt und sie so für jede künftige Erinnerung von vornherein löscht. Der Vortrag zeigte, wie entscheidend das Regime konservierender wie selektierender Zeichen der kulturellen Erinnerungsarbeit zu- oder eben auch entgegenarbeiten kann. Zum Abschluss des Studientages machte der Wissen-schaftshistoriker Michael Hagner (Zürich) in einem programmatischen Referat die Zukunfts-vergessenheit der aktuellen Geisteswissenschaften zum Thema, indem er einen Blick zurück-warf in die Zeiten, wo die geisteswissenschaftlichen Disziplinen ihre Identität noch unter eben diesem Zukunftshorizont – konkret: im Begriff der Utopie – gesucht hatten. Die zentrale The-se des Vortrags bestand darin, dass die Geisteswissenschaften in dem Moment die Zukunft vergassen, als sie sich das Gedächtnis zum neuen Leitparadigma auserkoren hatten. Hagner führte diesen Trend im Kontext der politischen und kulturellen Entwicklungen der 1970er Jahre aus und stellte ihm ein Plädoyer für die Wiederentdeckung der Zukunft als Forschungs-feld der Geistes- und Kulturwissenschaften entgegen. Die abschließende Diskussion drehte sich um die offene Frage, welchen Part die Semiotik in diesem Zukunftsszenario spielen könnte.
Christine Abbt und Hans-Georg von Arburg

Programm

SAMSTAG, 24. APRIL 2010

09.30 - 10.00    Christine Abbt (Zürich) und Hans-Georg von Arburg (Lausanne): Begrüssung, Einleitung

10.00 - 11.00    Hubert Thüring (Basel): »Vergessen und Durchstreichen. Negation und Produktion im Denken und Schreiben Nietzsches«

11.00 - 11.30    Kaffeepause

11.30 - 12.30    Anna Joss (Zürich): »Verlorene Geschichten, Sammlungslücken und unbekannte Objekte. Überlegungen zum Vergessen in der Sammlungspraxis historischer Museen«

12.30 - 14.00    Mittagspause

14.00 - 15.00    Michael Schmid (Zürich): »Vergessen im Archiv«
15.00 - 15.30    Kaffeepause

15.30 - 16.30    Michael Hagner (Zürich): »Über die Zukunftsvergessenheit der Geisteswissenschaften«

16.30 - 17.30    Generalversammlung SGKS

Veranstaltungsort

Universität Zürich, Philosophisches Seminar / Ethikzentrum der Universität Zürich
Kutscherhaus, Zollikerstrasse 117, 8008 Zürich

Kontakt

Dr. Christine Abbt
Universität Zürich
Philosophisches Seminar
Zollikerstr. 117
CH-8008 Zürich
Tel. + 41 (0)44 634 85 33, Mail: abbt@philos.uzh.ch

Prof. Dr. Hans-Georg von Arburg
Université de Lausanne
Faculté des lettres, Section d'allemand
Bâtiment Anthropole
CH-1015 Lausanne
Tel. + 41 (0)22 692 29 81 Mail: hg.vonarburg@unil.ch