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Reaktion der SAGW auf den Bericht der Sonntagszeitung vom 1. Januar 2006

Stellungnahmen

„Wir fordern mehr Mittel für Nano-, Bio- und Umwelttechnologie“ – Bericht in der Sonntags-Zeitung vom 1. Januar 2006

Reaktion der Schweizerischen Akademie für Geistes- und Sozialwissenschaften auf das Interview mit Frau Leuthard in der Sonntags-Zeitung vom 1. Januar 2006

Frau Nationalrätin
Doris Leuthard
Präsidentin CVP Schweiz
Kirchfeldstrasse 6
5630 Muri AG

Bern, 5. Januar 2006 

 

„Wir fordern mehr Mittel für Nano-, Bio- und Umwelttechnologie“ – Bericht in der Sonntags-Zeitung vom 1. Januar 2006

Sehr geehrte Frau Leuthard 
Mit grösster Besorgnis haben wir vom oben genannten Bericht in der Sonntags-Zeitung vom 1. Januar 2006 Kenntnis genommen. Auf eine kurze Formel gebracht, wird zur Stärkung der Innovationskraft der Schweiz eine Umverteilung der Mittel von den Geistes- und Sozialwis-senschaften hin zu den Naturwissenschaften gefordert. Wir sind überzeugt, dass dieser Forderung eine Reihe von falschen Annahmen zugrunde liegen, und erlauben uns daher, diese in den Abschnitten 1 und 2 zu korrigieren. Gerade mit Blick auf Ihr Anliegen, die Wachstums- und Innovationskraft der Schweiz zu stärken, das wir vollumfänglich teilen, liegt uns jedoch weit stärker an den Feststellungen in den Abschnitten 3 und 4.

1. Es sind keine Mittel zur Umverteilung vorhanden 
Wie der letzten, öffentlich verfügbaren detaillierten Auswertung zu entnehmen ist, verteilten sich die vom SNF für die Grundlagenforschung eingesetzten Mittel (Gesamtvolumen 250 Mio.) im Jahre 2000 wie folgt: 

Geistes- und Sozialwissenschaften 14% 
Mathematik, Natur- und Ingenieurwissenschaften 40% 
Biologie und Medizin 46% 

Dabei weisen die Biologie und Medizin seit 1996 leichte jährliche Erhöhungen aus, die auf Kosten der Mathematik, Natur- und Ingenieurwissenschaften sowie der Geistes- und Sozialwissenschaften gehen. Sofern eine Umverteilung der Mittel als zielführend erachtet wird, was wir bestreiten (siehe Abschnitt 3), so müsste, wenn schon die Medizin zugunsten der Mathematik, Natur- und Ingenieurwissenschaften gekürzt werden. 

Der im Jahr 2000 durchschnittlich pro Projekt gesprochene Beitrag belief sich auf 

Fr. 136'268.- für die Geistes- und Sozialwissenschaften; 
Fr. 221'653.- für die Mathematik, Natur- und Ingenieurwissenschaften; 
Fr. 209’575.- für die Biologie und Medizin. 

Damit wurde schon 2000 ein klar ungenügender Durchschnittsbetrag pro geisteswissen-schaftliches Projekt erreicht, der es kaum mehr erlaubt, eine Forschung über die von der Sache her gebotene Zeit zu betreiben. 

Im Bereich der Personenförderung, welche im Wesentlichen die Stipendien für angehende Forschende umfasst und das zweite bedeutende Förderungsinstrument des SNF darstellt, präsentierte sich die Verteilung der Mittel im Jahre 2000 wie folgt: 

Geistes- und Sozialwissenschaften 35.5% 
Mathematik, Natur- und Ingenieurwissenschaften 30.1% 
Biologie und Medizin 34.4% 

Da die Geistes- und Sozialwissenschaften 60.7% aller Studierenden auf sich vereinen, ist dieser Bereich trotz der ausgewiesenen 35.5% auch bei der Personenförderung klar untervertreten. 

Unter Einbezug von Publikations- und persönlichen Beiträgen, Beiträgen im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit sowie der Bundesprogramme (Nationale Forschungsprogramme (NFP), Schwerpunktprogramme (SPP) und Nationale Kompetenzzentren (NCCR) beträgt der Anteil der Geistes- und Sozialwissenschaften an den Gesamtaufwendungen des SNF bescheidene 22.5%. Zu beachten ist jedoch, dass in diesen Zahlen erstens die Aufwendungen für das mittlerweile abgeschlossene SPP Zukunft Schweiz enthalten sind und zweitens die Geisteswissenschaften in den Bundesprogrammen nur mangelhaft vertreten sind. 

Fazit: Bereits heute sind die Geistes- und Sozialwissenschaften im Bereich der Grundlagenforschung klar unterdotiert. Den ‚Ärmsten’ zu nehmen, zahlt sich nicht aus und angesichts der schon heute ungenügenden Durchschnittsbeiträge pro Projekt sowie der hohen Ablehnungsquote käme ein weiterer Abbau der Mittel einer Verhinderung jeglicher geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschung gleich.

2. Mangelnder Nachwuchs in den Naturwissenschaften 
Aus der Tatsache, dass die schweizerischen Universitäten zahlreiche hoch qualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland anziehen, schliessen Sie in dem von Ihnen gegebenen Interview, dass wir in der Schweiz zu wenig NaturwissenschafterInnen ausbilden. Auch diese Aussage widerspricht den Fakten: Wir stellen seit 1996 eine Abnahme der bereits geringen Doktoratsabschlüssen bei den Geistes- und Sozialwissenschaften um 8.6% und eine Zunahme um 41.4% bei den Technischen Wissenschaften fest. Stabil präsentieren sich die Doktoratsquoten in den Bereichen Biologie, Medizin und Naturwissenschaften. Wenn es ein (schweizerisches) Nachwuchsproblem gibt, dann in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Hier ist die internationale Konkurrenzfähigkeit gefährdet, und dass zahlreiche talentierte junge Menschen auf ein Doktorat verzichten, hängt auch damit zusammen, dass keine Förderungsmittel zur Verfügung stehen. 

Überdies ist es nicht zulässig, vom Anstieg der ausländischen Fachkräfte an schweizerischen Universitäten auf einen Mangel an schweizerischen Nachwuchskräften zu schliessen. Spitzenforschung ist in höchstem Masse internationalisiert und entsprechend ist ein hoher Anteil ausländischer Fachkräfte ein klarer Ausweis der Exzellenz und Attraktivität schweizerischer Universitäten.

3. Exzellenz und Qualität als einzige Kriterien für die Zuteilung von Mitteln 
WissenschafterInnen aller Fachbereiche sind sich einig, dass Forschungsmittel stets und ausschliesslich nach den Kriterien der Exzellenz und Qualität vergeben werden müssen. Wie zahlreiche Beispiele belegen, führt eine an vagen Hoffnungen und Versprechungen auf möglichen, künftigen Nutzen orientierte Förderung im besseren Fall zu massiven Fehlallokationen und im schlimmeren Fall zu einer Korrumpierung des Forschungssystems. Ein beredetes Beispiel für letzteres liefern in diesen Tagen die Vorfälle in Korea. 

Mit Erleichterung haben Forschende wie Förderorganisationen in den letzten Jahren das Ende des „new utilitarian science regime“ begrüsst, welches Forschende gezwungen hat, bereits in ihren Anträgen nutzbringende Ergebnisse bekannt zu geben. Nahezu alle grossen Durchbrüche wurden im Rahmen von Forschungen erzielt, die auf keinen Verwendungszweck ausgerichtet waren, und oftmals wurde die mögliche nutzbringende Verwendung eines Forschungsergebnisses erst Jahre später erkannt. 

Es darf nicht sein, dass heute Politikerinnen unter dem Versprechen, die Mittel effizienter einzusetzen, auf Rezepte zurückgreifen, die sich nachweislich als untauglich und in hohem Masse gefährlich erwiesen haben.

4. Ein technokratisch verkürztes Innovationsverständnis 
Jährlich verlassen gegen 6000 gut ausgebildete Geistes- und Sozialwissenschafterinnen unsere Universitäten, um in Gesellschaft und Wirtschaft verantwortungsvolle Positionen zu übernehmen. Ihre Kompetenzen werden benötigt und nachgefragt. Innovation mag teilweise – nicht ausschliesslich – in einem Labor beginnen, sie endet aber in keiner Weise dort. Es sind Geistes- und Sozialwissenschafterinnen, welche aus Innovationen Produkte machen, indem sie diesen einen Namen geben, sie gestalten und verpacken, Verwendungskontexte aufzeigen, Märkte erschliessen, Finanzierungsformen aufzeigen und schliesslich an einer Rechts- und Gesellschaftsordnung bauen, die es erlaubt, Produkte zu vermarkten:

  • Nahezu jeder dritte Erwerbstätige in der Schweiz ist heute mit Menschen befasst, sei es, dass er diese führt, schult, berät oder betreut. Die dazu notwendigen Kompetenzen werden im Rahmen der Geistes- und Sozialwissenschaften vermittelt.
  • Substantielle Anteile der Herstellungskosten von Produkten – bei gewissen Konsumgütern bis zu 90% – entfallen heute auf Aufwendungen im Bereich des Mar-ketings: Es sind mehrheitlich Geistes- und Sozialwissenschafter, die dafür sorgen, dass uns auch für diesen Zweck die Worte und Bilder nicht ausgehen und den Markterfolg garantiert bleibt.
  • Als exportorientiertes Land ist die Schweiz in hohem Masse auf eine funktionie-rende, internationale Rechtsordnung angewiesen. An hiesigen Universitäten tätige RechtswissenschafterInnen und ÖkonomInnen sind an deren Ausgestaltung massgeblich beteiligt, dank Mitteln des Schweizerischen Nationalfonds.
  • Führende Unternehmen der Schweiz entdecken den Mehrwert von Kultur und Sprache: So übernimmt ABB die Kosten für den Sprachunterricht von interessier-ten Gymnasiasten in Chinesisch und Roche streicht die Bedeutung des historischen und kulturellen Wissens für ihren Erfolg in China hervor. Will die Politik just in diesem Moment und im Wissen darum, dass eine globalisierte Wirtschaft gerade auch interkulturelle Kompetenz erfordert, die zu deren Erlangung notwendigen Mittel streichen?
  • Ein wesentlicher Bestandteil erfolgreichen Wirtschaftens in einer globalisierten Ökonomie ist die richtige Einschätzung von Risiken: Die Versicherungen und Banken stocken den Anteil der Politologen, Soziologen, Historikern, Psychologen und Religionswissenschaftern in den entsprechenden Abteilungen auf.
  • Darf schliesslich daran erinnert werden, dass alles was wir tun, sei es in der Wirtschaft, sei es in der Politik, sprachlich vermittelt ist?

Wir haben in unserer Argumentation darauf verzichtet, den monetär wohl kaum bezifferbaren Beitrag zu thematisieren, den die Geistes- und Sozialwissenschaften durch die Bereitstellung von Orientierungswissen leisten. Es ist wohl unbestritten, dass der Bezug auf gemeinsam geteilte Werte und Normen sowie eine gemeinsam geteilte Vergangenheit für jegliches Tun, auch wirtschaftliches Handeln, unabdingbar ist. Auch hier liesse sich ein enger Zusammen-hang zu Innovation und Wachstum herstellen, zeigen doch zahlreiche Studien, dass Sinnentleerung in Form von innerer Kündigung, mangelnder Identifikation und fehlender Motivation volkswirtschaftliche Schäden in Milliardenhöhe verursachen. Ferner hängt die Innovationsfähigkeit letztlich von Menschen ab, die in der Lage sind, mit dem Neuen und Unbekannten umzugehen. Wie die weit verbreitete Skepsis in der Bevölkerung gegenüber den von Ihnen favorisierten Schlüsseltechnologien zeigt, bleibt hier gerade in der Schweiz eine grosse Arbeit zu leisten. Innovation und Technologie müssen sozial und kulturell eingebunden werden und dazu bedarf es geistes- und sozialwissenschaftlicher Kompetenzen. Schliesslich müsste über den volkswirtschaftlichen Nutzen von Museen, Galerien, Bibliotheken, Archiven, Sammlungen, Schauspielhäusern, Konzerthäusern, Theaterspielstätten etc. gesprochen werden. Es wäre der Frage nachzugehen, was über Hunderttausend Schweizerinnen und Schweizer an Ausstellungen wie der „Bildersturm“ oder „Galileo Galilei“ führte. Im Lichte solcher Reflexionen wäre dann zu prüfen, ob Bildung und Forschung denn wirklich dem Volkswirtschaftsdepartement zu unterstellen sind. 

Wir hoffen, sehr geehrte Frau Leuthard, dass die Resolution „Mehr Innovation und Wachs-tum“, die Sie am 14. Januar 2006 den Delegierten Ihrer Partei vorlegen werden, nicht so einseitig ausfällt, wie dies der Artikel in der Sonntags-Zeitung vermuten lässt. Noch wichtiger ist es uns, dass für die kommende Forschungsförderungsbotschaft 2008 – 2011 die richtigen Signale für die Zukunft unseres Landes gesetzt werden. Gerne halten wir uns daher für Gespräche mit Ihnen sowie Ihren MitarbeiterInnen zu Verfügung. Mit freundlichen Grüssen 
Dr. Markus Zürcher 

z.K. Frau Ständerätin Anita Fetz, Präsidentin WBK-SR
Frau Nationalrätin Kathy Riklin, Präsidentin WBK-NR
Frau Nationalrätin Dr. Doris Stump
Herr Nationalrat Ruedi Noser
Herr Nationalrat Ueli Maurer
Herr Prof. Dr. Dieter Imboden, Präsident SNF
Herr Prof. Dr. Meinrad Perrez, Präsident Abteilung I SNF
Herr Dr. Daniel Höchli, Direktor SNF
Prof. Dr. Josef Jurt, Mitglied SWTR