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SAGW verleiht Nachwuchspreis 2021 an drei junge Forschende

Christina Graf
Communiqué de presseMedienmitteilung

Bern, 28. Mai 2021. Die Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) verleiht den Nachwuchspreis 2021 an Edda Humprecht (Gold, Universität Zürich), Odile Ammann (Silber, Universität Zürch) und Damian Clavel (Bronze, Universität Oxford). Mit medienwissenschaftlichen, interdisziplinären und geschichtswissenschaftlichen Methoden beleuchten die drei Forschenden aktuelle Themen: Die Desinformation im Online-Raum, die Praxis der «Goldenen Pässe» und die Konstruktion von historischen Erzählungen.

Die SAGW vergibt jährlich einen Preis für herausragende wissenschaftliche Aufsätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften an Schweizer Nachwuchsforschende. Sie verleiht den gesamthaft mit 18 000 Franken dotierten Preis im Frühling an ihrer Jahresversammlung. Im Jahr 2021 gewinnt in der Kategorie Gold die Medienwissenschaftlerin Edda Humprecht. Sie ist Oberassistentin am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung (IKMZ) der Universität Zürich und forscht zu Online-Kommunikation und digitalem Wandel. Preisträgerin in der Kategorie Silber ist die Rechtswissenschaftlerin Odile Ammann. Ebenfalls an der Universität Zürich forscht sie zu internationalem öffentlichem Recht, vergleichendem Verfassungsrecht, EU-Recht und Rechtstheorie. Den Bronze-Preis erhält Damian Clavel, der sich als Historiker auf die europäischen Finanzmärkte und Kolonialismus spezialisiert hat. Er forscht am Oxford Centre for Economic and Social History.

Gold: Was macht ein Land anfällig für Online-Desinformation?

Edda Humprecht und ihre Forschungskollegen Frank Esser und Peter van Aelst befassen sich im goldprämierten Artikel mit einer der grossen Herausforderungen unserer Zeit, der Desinformation im Online-Raum. Nebst gezielt gestreuten Falschinformationen verstehen sie darunter mangelnden Kontext, uninformierte, öffentlich geteilte Meinungen sowie manipulierte Kommentare. Besonders anfällig für die Verbreitung von Desinformation seien soziale Medien, deren Algorithmen emotionalisierende und aufmerksamkeitserregende Inhalte bevorzugen. Untersuchungen aus den USA und Europa zeigen, dass Informationen auf Twitter und Facebook selektiv sowie einzelne Gruppierungen überproportional sichtbar sind. Social Bots verstärken die Reichweite von desinformierenden Inhalten und damit die Informationsverschmutzung im Online-Raum.

Immer mehr Menschen informierten sich primär in den sozialen Medien, schreibt Humprecht. Gerade dort würden sie desinformierende Inhalte aber oft schlecht erkennen. Dennoch scheinen solche Inhalte nicht überall gleich stark verbreitet zu sein, wie Umfragedaten zeigen. Warum sind die Einwohnerinnen und Einwohner mancher Länder weniger anfällig für die Verbreitung und den Konsum von Desinformation? Um dies zu beantworten, verglich die Autorin 18 Länder nach sieben Faktoren: Polarisierung, populistische Kommunikation, Vertrauen in Medien, Fragmentierung des Nachrichtenpublikums, Verbreitung und Nutzung öffentlicher Medien, Grösse des Medienmarktes und Nutzung sozialer Medien. Die quantitative Analyse bestätigt, dass diese Faktoren die Resilienz eines Landes gegen Desinformation beeinflussen. Die AutorInnen identifizieren zudem drei Gruppen von Ländern, die ähnliche Rahmenbedingungen und Resilienzniveaus aufweisen.

Die Untersuchung von Humprecht und Kollegen trägt zum Verständnis der Bedingungen bei, die ein Land resilient gegen die Entstehung und Verbreitung von Online-Desinformation machen. Der Artikel liefert «klare Antworten zu aktuellen theoretischen und methodologischen Herausforderungen… einer aktuellen Debatte», so die Nachwuchspreis-Jury. Er sei informativ und biete «grosses Potenzial für Anschlussforschungen».

Silber: Wie werden «Goldene Pässe» gerechtfertigt?

Der Beitrag von Silber-Preisträgerin Odile Ammann behandelt das Thema der Staatsbürgerschaft durch Investitionen, besser bekannt als «Goldene Pässe». Länder wie Malta und Zypern verleihen Personen im Austausch gegen eine Zahlung oder Investitionen die Staatsbürgerschaft, wobei die normalen Einbürgerungskriterien grösstenteils wegfallen. Ammann untersucht in ihrem Aufsatz die Argumentationsmuster, mit denen Staaten, Personen und Beratungsbüros die umstrittene Praxis rechtfertigen. Sie stellt fest, dass oft auf «meritokratische Argumente» zurückgegriffen werde. In einer meritokratischen Gesellschaft, so das Ideal, haben alle unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, sozialer Herkunft die gleichen Möglichkeiten. Welche Position ein Mensch in der Gesellschaft einnimmt, hängt damit nur vom persönlichen Verdienst (engl. merit) ab, der sich aus den individuellen Fähigkeiten und der Anstrengung ergibt. Weil alle dieselben Startbedingungen haben, bekommt am Ende also jeder genau das, was er oder sie verdient. 

In der Argumentation für die Goldenen Pässe werde Vermögen als Zeichen von Verdienst gewertet, so Ammann. Man nehme an, dass die vermögenden Personen vertrauenswürdig seien und sich mit dem Zielland identifizierten. Dies sei aus mehreren Gründen problematisch. Erstens, weil sich viele Inhaber von Goldenen Pässen nie im Zielland niederliessen oder sich dort engagierten. Zweitens, weil Einbürgerungswillige in zwei Klassen unterteilt würden: Die Mehrheit muss strikte Integrationskriterien erfüllen, die für eine kleine Minderheit nicht gelten. Drittens und entscheidend sei die Chancengleichheit als Grundvoraussetzung für die meritokratische Gesellschaft nicht erfüllt. Sie sei vielmehr ein unerreichbares Ideal. Wenn jedoch nicht alle die gleichen Startbedingungen hätten, verstärke eine Praxis wie die Goldenen Pässe bestehende Ungleichheiten, analysiert die Autorin.

Ammann legt in ihrem Artikel überzeugend dar, dass gewisse Einbürgerungspraktiken auf problematische Weise mit meritokratischen Idealen verbunden sind. Die Jury lobte insbesondere die klare Argumentation der Autorin sowie die interdisziplinäre Perspektive.

Bronze: Die Geschichte von Poyais oder der Betrug, der keiner war

Die Finanzkrise von 2008 brachte mehrere Fälle von eklatantem Finanzbetrug wie jene von Bernard Madoff oder Jérôme Kerviel zu Tage. Verschiedene Medien zogen damals Vergleiche zwischen zeitgenössischen Figuren und Betrügern der Vergangenheit. Aus all diesen Fällen stach Gregor MacGregor hervor, bezeichnet als «König der Betrüger». MacGregor verkaufte in den frühen 1820er-Jahren auf dem Londoner Kapitalmarkt Anleihen für einen zentralamerikanischen Staat namens Poyais. 1824 wurde öffentlich bekannt, dass es diesen florierenden Staat so nicht gab. Bald galt MacGregor als dreistester Finanzbetrüger der Geschichte. Später fand Poyais als humoristische, etwas skurrile Anekdote Eingang in Medien und Wissenschaft.

Dieses Bild stellt Bronze-Preisträger Damian Clavel in Frage. Poyais sei kein aussergewöhnlicher Betrugsfall gewesen, sondern ein komplexes, ernst gemeintes Kolonialisierungsprojekt und durchaus bezeichnend für seine Zeit. Der zurückgewiesene schottische Söldner MacGregor versuchte, über den britischen Kapitalmarkt die Besiedlung eines Gebiets zu finanzieren, das ihm ein indigener Herrscher zugesprochen hatte. Sein Scheitern wurde von britischen Konkurrenten in Lateinamerika und London bewusst als Betrug dargestellt.    

Clavels historische Analyse deckt ein komplexes Netz von transatlantischen Akteuren und Orten rund um den britischen Kapitalmarkt des frühen 19. Jahrhunderts auf. Sie erlaubt einen Einblick in die finanzielle Dynamik des privaten Kolonialismus und deren Beitrag zur imperialistischen Expansionspolitik Grossbritanniens. Der Autor zeigt am Beispiel von Poyais auf, wie ein scheinbarer Einzelfall stellvertretend für die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen einer Zeit stehen kann. 

Anteil weiblicher Kandidaturen so hoch wie noch nie

58 Forscherinnen und 40 Forscher haben sich für den Nachwuchspreis 2021 beworben. Die Dossiers der Kandidatinnen und Kandidaten lassen sich als eine Bestandsaufnahme der geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung in der Schweiz lesen. Rund 60 Prozent der Bewerbungen, ein so hoher Anteil wie noch nie, kommen von Frauen. Dies spiegelt auch den hohen Frauenanteil in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Nicht zuletzt zeigt sich die internationale Ausrichtung der Forschung: Fast zwei Drittel der eingereichten Texte (66) sind auf Englisch verfasst. Das übrige Drittel verteilt sich auf Deutsch (17), Französisch (13) und Italienisch (2).

Jakob Tanner, Präsident der Nachwuchspreis-Jury, übergab die Urkunden am Freitag, 28. Mai 2021 um 16.30 Uhr im Rahmen der virtuellen Delegiertenversammlung der SAGW. Die Gold- und Silberpreisträgerinnen waren vor Ort, der Bronze-Preisträger live zugeschaltet.

Kontakt für Rückfragen

Lea Berger, wissenschaftliche Mitarbeiterin SAGW
Tel. 031 306 92 59
lea.berger(at)sagw.ch 

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