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«Es gibt in der Schweiz keineswegs einen geteilten Konsens zur Geschlechtergleichstellung»

Beatrice Kübli, Kommunikation

Wir denken, die Gleichstellung sei erreicht, aber das ist ein Mythos. In den Gesetzen ist sie längst verankert. Weshalb wird sie nur so zögerlich umgesetzt?

Es ist ein Frauenthema. Unter den rund 30 Anwesenden, die am Montag von Prof. Dr. Andrea Maihofer mehr über die Herausforderungen der Geschlechtergleichstellung erfahren wollten, fanden sich lediglich drei Männer. Von Geschlechtergleichstellung sind wir hierzulande noch weit entfernt, obwohl dies als Ziel Nr. 5 in der UNO-Agenda 2030 verankert ist. Dabei ist der Handlungsbedarf offensichtlich. Zum Beispiel bei der häuslichen Gewalt: Allein im Kanton Zürich kam es im vergangenen Jahr zu 5300 Einsätzen wegen häuslicher Gewalt. Das sind 15 Einsätze pro Tag. Durchschnittlich stirbt in der Schweiz alle zwei Wochen eine Person an den Folgen häuslicher Gewalt, 95% davon sind Frauen. Weshalb tut sich auf politischer Ebene denn so wenig?

Ein verkanntes Problem

Das 2007 vom Bundesrat in Auftrag gegebene NFP 60 «Gleichstellung der Geschlechter» zeigte, dass die zögerliche Umsetzung vor allem an zwei Irrtümern liegt:

  1. Wir gehen davon aus, dass alle mit der Geschlechtergleichstellung einverstanden sind und diese jetzt nur noch umgesetzt werden müsse. Aber es gibt keinen solchen Konsens.
  2. Wir denken, die Gleichstellung sei erreicht. Das ist ein Mythos.

Manche mögen jetzt denken, das sei doch geregelt. Schliesslich ist die Gleichstellung in der Verfassung verankert. Mehr noch, wie Maihofer in Erinnerung ruft: Es gibt das Bundesgesetz von 1995 über die Gleichstellung von Frau und Mann, welches nicht nur die formale sondern auch die materielle Gleichstellung regelt. Aber Strukturen müssen von Individuen getragen und gelebt werden. «Gewisse Handlungen werden immer noch einfach so hingenommen, obwohl es gemäss Verfassung unrecht ist», kritisiert Maihofer. Und solange sich die Männer in ihrem Selbstbild bedroht fühlen, wird sich nicht viel ändern.

Fest verankerte Rollenbilder

Das Problem liegt nicht nur bei den Männern. Die Rollenbilder sind fest verankert, auch wenn sich hier in letzter Zeit einiges getan hat. In einer Studie gingen Maihofer und ihr Team der Frage nach, inwiefern sich bei jungen Frauen und Männern die Vorstellung einer Familie und der eigenen Berufstätigkeit gegenseitig beeinflussen. Dabei zeigte sich, dass sowohl für Männer wie für Frauen die Berufstätigkeit zentral für die eigene Identität ist. Sobald aber eine Familie hinzukommt, ändert sich die Perspektive. Obwohl die Frauen ein durchaus ambivalentes Verhältnis zur Mutterschaft haben, stellen sie die Familie an erste Stelle und sehen sich als hauptverantwortlich für die Kinder. Eine Berufstätigkeit ist zwar weiterhin wünschenswert, aber nur in Teilzeit. Bei den Männern spiegelt sich dieser Aspekt. Sie sehen sich als Haupternährer. Auch, weil die Frauen das erwarten. Entsprechend viel Gewicht geben sie der beruflichen Weiterentwicklung. Dennoch möchten sie auch für die Kinder da sein. Der Wunsch nach einer Reduktion des Arbeitspensums auf 80% nimmt zu. Inzwischen ist es gar so, dass sich Männer erklären müssen, wenn sie die Arbeitszeit nicht reduzieren. Maihofer macht einen klaren Unterschied, ob Männer einen Familien- oder einen Kinderwunsch angeben. Solche mit Familienwunsch können oft keine konkreten Erwartungen an den Alltag nennen. Männer mit Kinderwunsch hingegen, haben klare Vorstellungen von ihrer Vaterrolle. Einen Vorteil könnte das neue Vaterbild für die Gleichstellung haben: Da jetzt auch Männer mit dem Vereinbarkeitsproblem konfrontiert sind, wird es eher zu einem öffentlichen Problem, das nach strukturellen Lösungen verlangt. Eine Ursache für die verzögerte Gleichstellung sieht Maihofer nämlich in der «neoliberalen Rhetorik der Eigenverantwortung, welche die Sicht auf die gesellschaftliche Verantwortung für die Lebens- und Arbeitsbedingungen verstellt».

Kinderbetreuung gilt als Privatsache

Familie und Kinderbetreuung gelten hierzulande als Privatsache. Da wundert es nicht, dass im Zusammenhang mit Kitas viel von «Fremdbetreuung» gesprochen wird. «Ein sehr schweizerisches Wort», stellt die ursprünglich deutsche Maihofer fest. Das Wort widerspiegle das emotionale Problem der SchweizerInnen mit der Kita. Kinder in die Kita zu geben, ist allen Gleichstellungstendenzen zum Trotz immer noch etwas in Verruf. Man vertraut eher auf die Grosseltern, konkret auf die Grossmütter. Das könnte einer der Gründe sein, weshalb auch die Mütter von erwachsenen Kindern ihre Arbeit nicht wieder aufnehmen. Dieses Phänomen lässt sich nämlich nicht nur dadurch erklären, dass der Wiedereinstieg in den Beruf schwierig ist. Maihofer vermutet hier eine gewisse Resistenz der Frauen und zeigt Verständnis für diese Vorgehen: «Die Frauen empfinden das Arbeitssystem als Problem und versuchen so, sich dem zu entziehen.» Typisch schweizerisch ist auch das Wort «Mutterschaftsurlaub». Wer Kinder hat, wird sich erinnern, dass diese Zeit nicht ganz einem Urlaub entspricht. Die Deutschen nennen es «Elternzeit» und beziehen so den Vater mit ein. In der Schweiz gibt es derweilen statt wie in Deutschland drei Jahren Elternzeit Diskussionen zum Vaterschaftsurlaub. Vier Wochen seien zu viel, findet der Nationalrat. Aber immerhin zwei Wochen könnten demnächst Realität werden. Obwohl unter diesen Vorzeichen an Elternzeit nicht zu denken ist, gibt es Bestrebungen in diese Richtung. Gabriela Riemer-Kafka, Professorin für Sozialversicherungs- und Arbeitsrecht an der Universität Luzern, beschrieb unlängst in der NZZ am Sonntag das Modell des Betreuungsurlaubs. Idealerweise wäre er so flexibel einsetzbar, dass er auch für die Betreuung von Angehörigen genutzt werden könnte.

Die einzelnen Anliegen nicht gegeneinander ausspielen

Fest steht: Es gibt noch viel zu tun. Die Anliegen sind vielfältig, wie der Frauenstreik zeigte: Lohngleichheit, Wertschätzung von Care-Arbeit, Vermeidung von Homo- und Transphobie sowie von sexueller Gewalt und weiteres mehr. «Eine Vielfachkrise», nennt es Maihofer. Sie befürchtet, dass sich die Bewegungen gegeneinander ausspielen lassen, ganz nach dem Prinzip «Herrschaft durch Teilen». Die Diskussion um die Priorisierung müsse möglichst vermieden werden. Wichtig sei wahrzunehmen, welche Bedürfnisse es gibt, ohne die einzelnen Anliegen zu werten. Einen Wunsch hat Maihofer dennoch: 2021 wird es 50 Jahre her sein, dass die Schweiz das Frauenstimm- und -wahlrecht eingeführt hat. Ein Recht, das den Frauen bereits viel früher zugestanden wäre. «Die mehrfache Verweigerung des Stimmrechts für Frauen war ein kollektives Unrecht, für das man sich entschuldigen muss», fordert Maihofer.

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Am Montag sprachen wir im Haus der Akademien in Bern mit Prof. Dr. Andrea Maihofer über «SDG 5: Aktuelle Herausforderungen für die Gleichstellung in der Schweiz aus der Sicht der Geschlechterforschung».

Präsentation von Prof. Dr. Andrea Maihofer