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«Ich finde ‹Grundlagenforschung› treffender als ‹Infrastruktur›»

Carmen Cardelle de Hartmann wurde in den Vorstand der Union Académique Internationale gewählt. Sie macht sich Sorgen über die Finanzierung von langfristigen Forschungsprojekten.

Die Union Académique Internationale (UAI) verfolgt das Ziel, die internationale Zusammenarbeit der Akademien mittels langfristigen Forschungsprojekten in den Geistes- und Sozialwissenschaften zu fördern. Wie macht sie das konkret?

Die UAI kann in erster Linie ein Siegel vergeben, das heisst sie kann garantieren, dass ein Projekt wichtige Grundlagenforschung auf hohem Niveau und in internationaler Zusammenarbeit leistet. Deshalb werden Projekte, die sich für die Aufnahme bei der UAI bewerben, sorgfältig geprüft und ihre Arbeit wird durch biennale Fragebogen und umfangreichere Evaluationen alle sechs Jahre begleitet. Es werden auch Kooperationen angeregt. Ferner kann die UAI kleinere Förderbeträge vergeben.

Sie sind seit 2021 Mitglied im Vorstand der UAI: Was ist Ihre Aufgabe?

Der Vorstand pflegt den Kontakt mit den Mitgliedern, koordiniert die Evaluation der Projekte und bereitet die Geschäfte der Versammlung vor. Vor allem diskutiert er, wie die UAI die Interessen ihrer Mitglieder vertreten und die von ihr begleiteten Projekte unterstützen kann. Wir beobachten ausserdem langfristige Veränderungen in der Forschungslandschaft, um angemessen darauf zu reagieren. Und wir reflektieren natürlich über die eigene Organisation. Zum Beispiel steht zur Diskussion, ob eine nationale Repräsentation, wie wir sie jetzt haben, den unterschiedlichen Traditionen in verschiedenen Ländern gerecht wird. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Vertiefung der globalen Beziehungen zwischen den Institutionen. Wir haben erfreulicherweise Mitglieder in allen Kontinenten und beobachten, ob weitere Akademien – oder äquivalente Gesellschaften – gegründet werden, die sich an unserer Arbeit beteiligen wollen.

Langfristige geisteswissenschaftliche Forschungsprojekte, wie die seit mehr als 100 Jahren laufende Edition «Corpus Vasorum Antiquorum», werden in Analogie zu den Natur- und Technikwissenschaften auch als «Infrastrukturen» bezeichnet. Ist das in Ihren Augen ein passender Begriff?

Ich finde die Bezeichnung «Grundlagenforschung» nach wie vor treffender, aber «Infrastruktur» hat den klaren Vorteil, dass dieser Begriff über unsere Fächer hinaus verstanden wird. Und er beschreibt auch zum Teil gut, was diese Grundlagenforschung für die Geisteswissenschaften insgesamt leistet: Die Wörterbücher und Repertorien, die Kataloge und Editionen sind nämlich die Fundamente, auf denen eine vielfältige, innovationsfreudige und gut abgestützte geisteswissenschaftliche Forschung entstehen kann. Wenn wir sie als Infrastrukturen beschreiben, müssen wir aber auch klar machen, dass es sich dabei nicht um reine technische Instrumente handelt, sondern um inhaltsgeleitete Forschung auf hohem methodischem Niveau.

Editionen und andere langfristige Projekte haben gegenwärtig einen schweren Stand gegenüber den Förderinstitutionen. Der Schweizerische Nationalfonds beispielsweise hat seit 2016 keinen «Call for Editions» lanciert …

Das ist eine sehr besorgniserregende Situation. Die Editionen haben nur einmal in mehreren Jahren eine Chance, eine Förderung zu erhalten. Andere Grundlagenprojekte haben überhaupt keine Möglichkeit, Anträge auf Drittmittel zu stellen. Man kann ja nicht ein Wörterbuch oder einen Katalog in einer kurzen Zeit erstellen oder in sinnvollen Teilabschnitten gliedern – abgesehen davon, dass Projekte, die einen Teilabschnitt von einem grösseren Vorhaben darstellen, schlechte Karten bei einem Antrag haben. Und es gibt nun mal Forschungsvorhaben, die nur über längere Zeit realisiert werden können, denn sie bewältigen sehr grosse Mengen an Materialien, die sie erschliessen und für weitergehende Forschung aufbereiten. Es wäre dringend notwendig, eine Diskussion darüber zu führen, wie langfristige Forschungsvorhaben vernünftig ausgewählt, finanziert und ausgeführt werden können.

Die UAI unterstützt mehr als 70 Projekte, von der Edition der Korrespondenz Hugo Grotius’ bis zur Herausgabe eines Wörterbuchs der akkadischen Sprache. Gibt es ein Projekt, das Sie besonders hervorheben möchten?

Das Projekt, das mir besonders am Herzen liegt und an dem ich selbst beteiligt bin, ist das «Dictionnaire du Latin Médiéval». Die UAI stiess dieses Projekt in den 1920er-Jahren wegen der europäischen Perspektive und der Wichtigkeit für alle historisch arbeitenden Fächer an, denn bis zum 12. Jahrhundert wurden die allermeisten Texte in den westeuropäischen Ländern in Latein geschrieben. Das Projekt gliedert sich in regionale Wörterbücher: Sechs sind nun fertig erstellt, an elf wird weitergearbeitet, zwei weitere sind geplant. Die Wörterbücher arbeiten eng zusammen, die Digitalisierung wurde gemeinsam vorangetrieben mit dem Ziel, sie in einer digitalen Plattform zusammenzuführen und so die Idee eines europäischen Wörterbuchs zu realisieren. 

Die Union Académique Internationale spielte eine wichtige Rolle in der Gründungsphase der SAGW, die seit 1952 Mitglied ist. Wie wichtig sind die Beziehungen heute noch?

Heutzutage gibt es mehr Möglichkeiten zur internationalen Kooperation und sie sind natürlich alle wichtig für die SAGW. Die UAI hat weiterhin eine wichtige Stellung, denn sie blickt über Europa hinaus und will ganz bewusst globale Perspektiven und interkontinentale Beziehungen fördern. Sie teilt ausserdem mit der SAGW das Ziel, die Geistes- und Sozialwissenschaften zu vertreten und ihre Inhalte und Ziele bekannt zu machen.

Fragen: Heinz Nauer