Als sich im April 1920 in Ankara die erste Grosse Nationalversammlung der Türkei unter der Führung von Mustafa Kemal (Atatürk) in einem provisorisch eingerichteten Gebäude traf, gab es noch keine parteipolitischen Differenzen: Alle Mitglieder der Nationalversammlung einte der Wunsch nach einer unabhängigen Türkei. Denn die Siegermächte im Ersten Weltkrieg, allen voran Frankreich und Grossbritannien, hatten eben Teile des zerfallenen Osmanischen Reiches unter sich aufgeteilt und besetzt, und eine aufstrebende türkische Nationalbewegung wehrte sich gegen die Besetzung. Doch eine scheinbar nebensächliche Frage löste an jenem Tag in Ankara eine heftige Debatte aus, welche die junge türkische Nationalversammlung vor eine Zerreissprobe stellte: die Alkoholfrage.
Die USA als Vorbild
Ali Şükrü Bey, ein 36-jähriger Politiker aus Trabzon, drängte die Versammlung zu einem Gesetz für das Verbot von Alkohol. Ein solches hatte es im Osmanischen Reich trotz der islamischen Doktrin vom Alkoholverzicht bislang nicht gegeben. Lediglich der Alkoholhandel war verboten, Nichtmuslime waren von diesem Verbot ausgenommen. Der Alkoholkonsum dagegen war vom osmanischen Staat nie sanktioniert worden. Ali Şükrü und Gleichgesinnte sahen sich von westlichen Ländern und Russland inspiriert: Wenn die USA, Australien, und «die Bolschewiken» Alkohol verbieten würden, argumentierte Ali Şükrü, so würde dies die Nationalversammlung, deren Prinzipien für die Gesetzgebung ohnehin auf dem Islam beruhten, gewiss ebenso tun.1
Er schlug ein Gesetz zum totalen Verbot von Alkoholhandel im gesamten Land vor, und zwar nach US-amerikanischem Vorbild. «Der Grund, warum ich diesen Gesetzentwurf überreiche, ist die Rettung unserer Generation von dieser entsetzlichen Plage», erklärte Ali Şükrü und meinte damit die Plage des Alkoholkonsums. Mit einem solchen Gesetz werde die Türkei sowohl den Respekt der Europäer und der Amerikaner gewinnen, als auch ihre Stellung in der islamischen Welt stärken.
Die Initiative von Ali Şükrü läutete eine kurze – wenn auch wenig erfolgreiche – prohibitionistische Ära in der Türkei ein. Das Alkoholverbotsgesetz wurde mit knapper Mehrheit angenommen und trat im Februar 1921 in Kraft. Doch mit der Umsetzung haperte es. Die Türkei hatte noch keine vollständige Souveränität erreicht; die Republik sollte erst 1923 ausgerufen werden. Die Nationalversammlung war eben von Istanbul nach Ankara umgezogen. Istanbul, immer noch das Zentrum der Verwaltung und Administration, war von den Triple-Entente-Mächten besetzt. Regierungsmitglieder und Beamte im Polizeikorps konsumierten weiterhin Alkohol und produzierten ihn gar selbst. Nicht einmal der Regierungsführer Atatürk hielt sich an das Verbot.
Der leidenschaftlichste Befürworter der Prohibition, Ali Şükrü, wurde derweil 1923 unter ungeklärten Umständen ermordet. Damit verlor die Alkoholverbotsdebatte ihren Vorkämpfer. 1924 wurde das Alkoholverbot durch eine Regulierung mit Lizenzvorgaben und Versteuerungen ersetzt. Zwei Jahre später hob die Regierung das Alkoholgesetz ganz auf und führte ein staatliches Monopol ein.
Die Erfindung des Alkoholproblems
Die Ironie der Geschichte: Während sich konservative und islamistische Kreise in der Türkei mit Forderungen eines Alkoholverbotes bis heute auf die islamische Tradition berufen, so stammt die Forderung eines staatlichen Alkoholverbotes aus dem Ideenkatalog der westlichen Moderne. In der osmanischen Gesellschaft war das Trinken nämlich verbreitet. Davon zeugen die «meyhanes» genannten Trinklokale, eine vom Byzantinischen Reich vererbte Tradition. Im 19. Jahrhundert nahm die Zahl der «meyhanes» in Istanbul derart zu, dass muslimische Autoritäten sich daran zu stören begannen. Der Staat unter Sultan Abdulhamid II. erhöhte die Abgaben auf den Alkoholhandel, um einerseits Profit aus der zunehmenden Trinkkultur zu schlagen, und andererseits, um den Protesten religiöser Kreise entgegenzukommen.
Bis zum frühen 20. Jahrhundert beschäftigte das «Alkoholproblem» die osmanische Öffentlichkeit jedoch kaum, ganz im Gegensatz zu Europa und den USA, wo der Alkohol in jener Zeit als Grundübel aller sozialen Probleme hingestellt wurde. Doch mit dem Erstarken der internationalen Antialkoholbewegung begannen auch in der osmanischen Öffentlichkeit Diskussionen um die Schädlichkeit des Alkohols. Das «Alkoholproblem» in der Gesellschaft wurde sozusagen erst kreiert. Vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs tauchten erste Vereine mit alkoholgegnerischen Aktivitäten auf. 1919 formulierte das Innenministerium zum ersten Mal konkrete Regeln darüber, in welchen öffentlichen Räumen das Trinken nicht erlaubt sei und legte Schliesszeiten von Clubs und «meyhanes» fest. Zugleich brandmarkten religiöse Autoritäten das Trinken zunehmend als Provokation durch die christliche Bevölkerung, die in der Zeit des Ersten Weltkrieges unter Verdacht stand, mit den Entente-Mächten gegen den osmanischen Staat zu kollaborieren.
Dieser religiös-nationalistischen Argumentation war auch Ali Şükrü gefolgt: Die Christen, die sich mit den Entente-Mächten verbündet hätten, profitierten vom Alkoholrausch der muslimischen Männer, vor allem von denjenigen an der Front: «In unserem Land werden 120 Millionen Liter Wein konsumiert, 120 Millionen Liter, die Geld in die Taschen der Griechen und Armenier bringen», empörte sich Şükrü anlässlich der heftigen Proteste seitens der Gegner seines Gesetzesentwurfs, in dem er sich darüber ereiferte, dass sich der Alkoholkonsum im Land angeblich verdoppelt habe. Millionen von Lira gingen in die Taschen von Christen, klagte er, «die uns offensichtlich als Feinde sehen, und dies auf Kosten von vielen Menschen, die entwürdigt werden.»
Alkohol und Identität
Wie die Eugenik die Antialkoholbewegung in Europa geprägt hatte, war sie auch prominent bei den Medizinern und Psychiatern (um diese Zeit ausschliesslich Männer), die in der Türkei dem Alkohol ihren Kampf ansagten. Ihre Argumente für das Alkoholverbot basierten auf eugenischen Vorstellungen, die zu dieser Zeit in Europa existierten. Der schweizerische Eugeniker Auguste Forel (1848-1931) wurde zur Referenzfigur in ihren Schriften für den Kampf gegen Alkohol. So bezeichnet Mazhar Osman, Psychiater und Mitgründer der alkoholgegnerischen Organisation Yeşilay (Green Crescent), in seinen Memoiren Auguste Forel als den Meister der alkoholgegnerischen Propaganda. Er habe viel von «Vater» Forel gelernt und bewundere dessen simple Art, medizinische Details einem Laienpublikum zu erklären.
Die Debatten über das Alkoholverbotsgesetz in der frühen Türkei waren somit stark von westlichen Ideen geprägt. Sie wiederspiegeln zugleich die krisenhafte Übergangsphase vom Osmanischen Kalifat zur Republik Türkei, in der es um die Frage ging, wie man sich in einer von westlichen Konzepten dominierten Weltordnung moderner Nationalstaaten einordnen sollte: Es ging um die Verteidigung der Nation und der auf Anatolien reduzierten Landesgrenzen. Für viele bedeutete dies auch eine Verteidigung des Islam und muslimischer Werte. Parallel dazu formierte sich eine säkularistisch orientierte politische Gruppe um Atatürk, die Reformen nach einem europäischen Modell postulierte und sich schliesslich durchsetzen sollte. Mit dem Alkoholkonsum wollte man die eigene Modernität zur Schau zur stellen, er wurde zu einem Symbol der Abgrenzung von der «veralteten osmanischen» Kultur und einer Identifikation mit der «neuen, progressiv-revolutionären» Ideologie. Erst die 1990er-Jahre würden mit dem Aufkommen religiös-konservativer Strömungen eine Wende einleiten, wobei der heutige türkische Präsident Erdogan eine prägende Rolle spielen sollte.
Nach dem Tod von Ali Şükrü und dem Ende des kurzen Experiments mit der Prohibition, verschwand das Alkoholthema während Jahrzehnten aus der türkischen Öffentlichkeit. Nur die parastaatliche Organisation Yeşilay (Green Crescent) befasste sich mit Alkohol als Suchtthematik. Ihre alkoholgegnerischen Publikationen bezogen sich auf ein als genuin «türkisch und islamisch» verstandenes Wertesystem. Zugleich verwiesen sie auf Publikationen der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Yeşilay nutzte die wissenschaftlichen Studien der WHO als Referenzpunkt, um die Universalität islamischer Prinzipien zu beweisen.
Liberalisierung und Aufstieg einer konservativen Mittelschicht
Erst in den 1980er Jahren tat sich erneut jener Graben zwischen Alkoholbefürwortern und -gegnern auf, der die junge türkische Nationalversammlung gespaltet hatte. Eine neue muslimisch-konservative Mittelschicht sorgte für eine steigende Nachfrage nach alkoholfreien Freizeiträumen. Diese Mittelschicht verdankt ihren Aufstieg den Wirtschaftsreformen in der Türkei, die 1983 begonnen haben und schrittweise das existierende staatlich-dominierte Wirtschaftsmodell durch ein liberal-marktwirtschaftliches System ersetzt hat. Im Zuge der wirtschaftlichen Liberalisierung nahmen zunehmend auch muslimisch-konservative Geschäftsleute, die seit der Gründung der Republik Türkei politisch und wirtschaftlich marginalisiert waren, an einer globalisierten Marktwirtschaft teil. Mit ihrem wirtschaftlichen Aufstieg verbreiteten sich neue Formen von Konsum und Freizeitvergnügen, die sich an islamischen Enthaltsamkeitsprinzipien orientierten.
Parallel dazu erstarkten die religiös orientierten politischen Parteien. Die 1983 gegründete Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) wurde 1996/97 erstmals Regierungspartei. Zu ihren Mitgliedern zählte unter anderem ein gewisser Recep Tayyip Erdogan. Die Partei bemühte sich um die Einführung einer Alkoholsteuer – bemerkenswerterweise im Rahmen von Reformen für eine Aufnahme in die Europäische Währungsunion. Die Alkoholregulierung wurde wieder – wie schon 1920 – von religiös orientierten Politikern eingefordert und wieder mit Referenzen zum Westen, in diesem Fall EU-Standards. Die Einführung einer Alkoholsteuer scheiterte aber aufgrund mehrmaliger Regierungswechsel. Erst 2002 setzte die Regierung die Alkoholsteuer durch. Federführend war der damalige Regierungschef Erdogan, Präsident der islamistischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), einer Nachfolgepartei der Wohlfahrtspartei. Die Einführung der Alkoholsteuer blieb weiterhin Teil eines Reformpaketes im Rahmen des türkischen EU-Mitgliedschaftsantrags.
Religiöse Kreise machten inzwischen Ali Şükrü Bey zu einer Ikone im Kampf gegen Alkohol. Politiker forderten eine Untersuchung des Mordes an Şükrü, hinter dem sie politische Motive witterten. Die Biographie des Alkoholgegners erhielt neue Aufmerksamkeit. Mehrere Publikationen über sein Leben, seine Alkoholverbotsinitiative und seine Ermordung sind seither erschienen. Zeitungsartikel kolportierten die These von einem politischen Mord und werteten Şükrüs Kampf gegen den Alkohol als Heldentat. Im 21. Jahrhundert gilt Şükrü in religiös-konservativen Publikationen als ein nicht mehr wegzudenkender «Märtyrer» im Kampf gegen den «heidnischen» Alkoholkonsum. Es gibt aber auch Gegenstimmen, die ihn als religiösen Fanatiker bezeichnen.
Erdogan vs. Atatürk
Mit dem Aufstieg der AKP zur Regierungspartei haben die Einschränkungen zugenommen. AKP-nahe Stadtverwaltungen ordneten die Schliessung von Bars und Clubs an, die Alkohol ausschenken. In vielen Küstenstädten wurde der Alkoholverkauf verboten. Dies löste erste Proteste aus. Man warf der Regierung vor, schrittweise die Scharia einzuführen. Im Mai 2013 führte die Regierung Erdogan ein neues Gesetz ein, das landesweit den Alkoholverkauf von 22:00 bis 06:00 verbietet. Die Regierung nahm erneut Bezug auf Europa, wo mehrere Staaten eine Beschränkung des Alkoholverkaufs eingeführt hatten, sowie auf Standards, welche die WHO vorschlägt. Kurz vor der Einführung des Alkoholgesetzes fand in Istanbul ein «Global Alcohol Policy Symposium» statt, mitorganisiert vom «Green Crescent» (Yeşilay), gesponsert vom WHO Regional Office for Europe, in Kooperation mit der türkischen Regierung. Erdogan sagte in der Eröffnungsrede des Symposiums, Alkoholkonsum könne nicht als Lebensstil gerechtfertigt werden. Er erwähnte das Alkoholgesetz von 1920 und Ali Şükrü und kritisierte dabei auch im weiteren Sinne die damalige radikale Reformpolitik Atatürks, welche der Türkei eine Modernisierung «aufgezwungen» habe.
Als das neue Alkoholgesetz eingeführt wurde, gab es in vielen Landesteilen Proteste. Sie verschmolzen mit Demonstrationen gegen die Regierung, die sich an einem Bauvorhaben im Gezi-Park in Istanbul entzündet hatten. Während der Demonstrationen, die zeitlich mit dem muslimischen Fastenmonat Ramadan zusammenfielen, tranken Teilnehmende Alkohol. Für die einen war das selbstverständlich, für die anderen ein demonstratives Symbol des Protests. Staatsnahe Medien wiederum veröffentlichten Bilder von Protestierenden mit Bierflaschen in den Händen und stellten diese als Provokation und Verletzung der religiösen Gefühle der fastenden türkischen Nation dar.
Trinken als Protest
Das Alkoholtrinken bleibt in breiteren Kreisen der Türkei ein Symbol einer säkularistischen Weltanschauung und des Fortschritts. So protestierte der Journalist Deniz Som im Jahre 2006 gegen das Alkoholverbot in Üsküdar, einer kleinen Küstenstadt in der Provinz Istanbul, das die AKP-nahe Stadtverwaltung beschlossen hatte. Er war Teil einer Gruppe von etwa 300 Leuten, die mit dem Slogan «Die Türkei ist laizistisch, und bleibt laizistisch» ihren Protest kundtaten. Som erklärte: «Die Scharia kommt Schritt für Schritt. Aber ich, als Staatsbürger, protestiere gegen diejenigen, die mein Land in das dunkle Mittelalter zurückführen wollen, und als seit sieben Generationen in Üsküdar verwurzelter [Bürger] möchte ich [ihnen] Trotz bieten. Zusammen mit meiner Ehegattin bin ich hier mit einer Weinflasche und Weingläser in der Hand.»
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1 Die Debatten in der Nationalversammlung zum Alkoholverbotsgesetz sind dokumentiert in: Karahanoğulları, Onur (2008). Birinci Meclisin Içki Yasağı. Men-i Müskirat Kanunu (Alkoholverbot der ersten Nationalversammlung. Das Alkoholverbotsgesetz). Ankara.
Dieser Beitrag basiert auf Forschungsergebnissen aus dem Postdoc-Projekt: Das «Alkoholproblem» in der Türkei von 1900 bis heute», finanziert vomSchweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Der Inhalt ist teilweise veröffentlicht in: Biçer-Deveci, Elife. Alcohol – A Battlefield Between Modernism and Islamism in Turkey. In: Biçer-Deveci, Elife, et al. (Hrsg.). Disputes on Alcohol in The Middle East and The Maghreb from 19th Century to Present. Oxford: Palgrave Macmillan St. Antony’s Series, 2020 (Publikation in Vorbereitung).
Der Artikel ist Teil eines Pilotprojekts für Wissenschaftskommunikation der SGMOIK. Die ehemalige Nahostkorrespondentin Monika Bolliger betreut in diesem Rahmen AkademikerInnen beim Verfassen journalistischer Texte über Themen ihrer Forschung. Eine leicht adaptierte Version wurde auf dem Online-Magazin «Geschichte der Gegenwart» publiziert.