Studientag 2023

Studientag der Schweizerischen Gesellschaft für Kulturtheorie und Semiotik

»Poetische Realismen in Literatur und Film«
Geschicke einer wunderlichen Begriffsverbindung


Universität Zürich, 30. September 2023
Schönberggasse 9, Gebäude SOD, Raum 002

Mit Vorträgen von Kira Jürjens (HU Berlin), Guido Kirsten (Filmuniversität Babelsberg), Klaus Müller-Wille (Universität Zürich), Daniel Wiegand (Universität Zürich)
Konzeption: Georges Felten (Universität Genf/Zürich) und Daniel Wiegand (Universität Zürich)


In den letzten Jahren hat der lange geradezu verpönte Realismus-Begriff fröhliche Urständ gefeiert, jeweils in Verbindung mit einem spezifizierenden Adjektiv. In dem Sinn wurden (und werden weiterhin) diverse ‚neue‘, aber auch ‚strukturale‘ und ‚spekulative‘ Realismen in der Gegenwartskunst und -philosophie ausgerufen. In unserem Workshop soll es demgegenüber um eine Begriffsverbindung gehen, die uns in vielerlei Hinsicht von Interesse scheint, in den gegenwärtigen Realismus-Debatten aber allenfalls ein Schattendasein fristet. Gemeint ist der sogenannt ‚poetische‘ Realismus.

Im deutschen Sprachraum wird der Begriff meist auf einen Epochenstil reduziert, den man auch als ‚bürgerlichen‘ Realismus bezeichnet und der in der deutschsprachigen Literatur zwischen 1850 und 1890 über weite Strecken dominant war. Dabei taucht der Begriff über die Epochen-, Sprach- und Mediengrenzen hinweg noch an ganz anderen Orten auf, um eine je spezifische Spielart realistischer Kunst zu markieren. Auch in der skandinavischen Literatur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, im französischen Film der späten 1930er Jahre (Carné, Renoir, Vigo) oder im ‚neuen‘ iranischen Film ab den 1960er Jahren schreiben sich bestimmte Künstler*innen bzw. Schulen und Strömungen den Begriff programmatisch auf die Fahnen, oder er wird in der Rezeption an sie herangetragen.

Von diesem Ausgangsbefund aus scheint es notwendig, einmal im Rahmen eines transdisziplinären Workshops die verschiedenen Verwendungsweisen des Begriffs miteinander ins Gespräch bringen und dabei zu fragen:

  • Was genau ist in den einzelnen Fällen unter ‚poetisch‘ und ‚Realismus‘ zu verstehen? Inwiefern wird dabei insbesondere das latente Spannungsverhältnis zwischen beiden Begriffen – die Spannung zwischen Selbst- und Fremdreferenz – reflektiert? Aber auch: In welchem Verhältnis stehen dabei Programmatik und Faktur der Werke?
  • Welchen (Distinktions-)Strategien entspricht der Einsatz des Epithetons ‚poetisch‘ gegenüber anderen, ‚harten‘, ‚prosaischen‘ Varianten realistischer Kunst, wenn es um die eigene Positionierung im jeweiligen künstlerischen Feld geht?
  • Lassen sich, von diesen Grundlagen aus, epochen-, medien- und kulturübergreifende Konstanten und/oder Entwicklungen hinsichtlich der programmatischen Verwendungsweisen von ‚poetischer Realismus‘ sowie der mit diesen einhergehenden Darstellungsverfahren feststellen?

Welche nachweisbaren Verbindungen gibt es zwischen den verschiedenen poetischen Realismen? Beziehen sich deren Vertreter*innen explizit aufeinander, oder arbeiten sie eher mit gemeinsamen Referenzen oder eint sie etwa allein das gemeinsame ‚Label‘, als eine Art leerer Signifikant?