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«Das Historische Lexikon soll nahe am Puls der Forschung sein»

Fragen: Heinz Nauer
SAGW Sociétés – langues – cultures

Sonja Matter ist die neue Direktorin des Historischen Lexikons der Schweiz. Im Interview weist sie auf thematische Lücken im Lexikon hin und erklärt, in welche Richtung sie das Lexikon entwickeln will.

Frau Matter, Sie sind seit Mitte Juli neue Direktorin des HLS. Fanden Sie schon Zeit, die 36 500 Lexikonartikel zu lesen?

Ich lese das HLS schon seit vielen Jahren, zunächst als Studentin, dann als Forscherin und Dozentin. Zudem habe ich einzelne Artikel selbst verfasst. Doch natürlich kenne ich bisher nur einen Bruchteil des umfassenden Korpus des HLS. Es ist ein immenser Schatz an geschichtswissenschaftlichem Wissen.

Was sind für Sie die drei grössten Stärken des HLS?

Das HLS ist erstens ein bedeutendes Referenzwerk: Es zeigt die Schweizer Geschichte in ihrer ganzen Vielfältigkeit und über verschiedene Epochen auf. Es vermittelt sowohl Wissen über urgeschichtliche Ufersiedlungen, als auch über den Aberglauben im Mittelalter oder die Digitale Gesellschaft der unmittelbaren Vergangenheit. Die Artikel sind zweitens wissenschaftlich fundiert und gleichzeitig frei zugänglich. Leser und Leserinnen können sich schnell ein differenziertes Bild zu einem Thema machen und erhalten durch die reiche Bebilderung und Multimedialisierung einen vielschichtigen Zugang. Drittens bietet das HLS die Möglichkeit, zu allen Themen weiter zu recherchieren. Denn zu den Artikeln finden sich Hinweise auf zusätzliche Literatur, Quellen und digitale Datenbanken.

Das HLS weist verschiedene thematische Lücken auf, so ist die Zahl der Frauenbiografien für alle Epochen noch zu klein.

In welchen Bereichen sehen Sie noch Verbesserungspotenzial?

Das HLS weist verschiedene thematische Lücken auf, so ist die Zahl der Frauenbiografien für alle Epochen noch zu klein. Dann fehlen Beiträge zu wichtigen Themen wie beispielsweise der transnationalen Verflechtung der Schweiz oder der Migrationsgeschichte, welche über Jahrhunderte prägend war. Weitere Projekte sind bereits aufgegleist, zum Beispiel eines zu mittelalterlichen Burgen als Orte der Macht. Eine Herausforderung ist es, den grossen Korpus laufend zu aktualisieren und die neuen Forschungsergebnisse zu integrieren. Dies ist letztlich eine Ressourcenfrage.

Das HLS hat sich seit seinen Anfängen in den späten 1980er-Jahren zur Mehrsprachigkeit bekannt und publiziert in allen vier Landessprachen – nicht aber in der Wissenschaftssprache Englisch. Ein Problem?

Das HLS avancierte zu einem Kompetenzzentrum für die Übersetzung historischer Themen in die vier Landessprachen. Viele Historikerinnen oder Publizisten orientieren sich, wenn sie einen Text übersetzen, an den Begriffen des HLS. Diese Leistung ist für die Verständigung einer mehrsprachigen Nation von grosser Bedeutung und hat Priorität. Mit der Übersetzung von Artikeln ins Englische würde das HLS seine Reichweite aber zweifelsohne nochmals stark erweitern. Zusätzliche finanzielle Mittel, um dieses Projekt zu realisieren, wären natürlich willkommen.

Viele Historikerinnen oder Publizisten orientieren sich, wenn sie einen Text übersetzen, an den Begrifflichkeiten des HLS. Diese Leistung ist für die Verständigung einer mehrsprachigen Nation von grosser Bedeutung.

Als Forscherin haben Sie sich unter anderem mit Frauenbewegungen, Kinderrechten, Gehörlosigkeit und Armut auseinandergesetzt. Wird das HLS diesen sozialhistorisch relevanten Themen in Ihren Augen gerecht?

Es gibt bereits zahlreiche spannende Artikel im HLS zur Schweizer Sozialgeschichte. Ein Projekt zur administrativen Versorgung läuft im Moment und die ersten Artikel zum Thema Zwangsfürsorge und Anstaltsversorgung erscheinen demnächst. Doch natürlich bestehen auch Lücken. Ein Zukunftsprojekt von mir ist es beispielsweise, die Gehörlosengeschichte im HLS nicht nur abzubilden, sondern auch in die Schweizer Gebärdensprachen zu verdolmetschen. So erhält die Gehörlosencommunity besseren Zugang zu ihrer eigenen Geschichte.

Jedes Jahr erreichen das HLS gut 500 Kommentare, Korrekturen und Vorschläge von Nutzerinnen und Nutzern. Bekommen alle eine Antwort?

Die grosse Zahl an Feedbacks zeigt, wie breit das HLS in Wissenschaft und Gesellschaft verankert ist. Viele der Rückmeldungen tragen dazu bei, die Artikel zu verbessern. Alle erhalten eine Antwort, doch können wir nicht alle Wünsche erfüllen. Gerade bei den Vorschlägen für neue Biografien müssen wir eine Auswahl treffen.

Ich möchte Wissen zu Themen vermitteln, die Leser und Leserinnen besonders bewegen. Damit kann das HLS Orientierungswissen für die Gegenwart bereitstellen.

In welche Richtung soll sich das Online-Lexikon unter Ihrer Leitung entwickeln?

Das HLS soll nahe am Puls der Forschung und an gesellschaftlichen Debatten sein. Ich möchte Wissen zu Themen vermitteln, die Leser und Leserinnen besonders bewegen. Damit kann das HLS Orientierungswissen für die Gegenwart bereitstellen. Zudem möchte ich das HLS noch breiter bekannt machen. Menschen unterschiedlichen Alters sollten wissen: Wenn sie eine Frage zur Schweizer Geschichte haben, finden sie im HLS eine erste Antwort.