Tagung 2022

Internationale Tagung der Schweizerischen Gesellschaft für Kulturtheorie und Semiotik (SKGS)

„Die Welt wird ein ungeheures Fragezeichen.“ Fragen als Verfahren der Literatur und Philosophie

Université de Genève, Département d’allemand, 12.-14. Mai 2022

Im Rahmen dieser öffentlichen Tagung findet am Freitag, dem 13. Mai um 18.00 Uhr eine Lesung & Gespräch mit dem Autor Jonas Lüscher statt.

Programmflyer
Flyer Lesung Jonas Lüscher

Fragen gehört zu den grundlegendsten Kulturpraktiken. Die ‚Natur‘ des Menschen liesse sich mindestens ebenso gut wie über das Wissen (homo sapiens), das Lachen (homo ridens) oder das Spielen (homo ludens) als ‚Fragetier‘ oder homo interrogans kennzeichnen. So kulturell allgegenwärtig das – mehr oder weniger buchstäbliche – Setzen von Fragezeichen ist, wird doch zwei Bereichen eine besondere Affinität zu diesem Geschäft nachgesagt: Literatur und Philosophie.
„Qu’est-ce que les choses signifient, qu’est-ce que le monde signifie? Toute littérature est cette question, mais il faut tout de suite ajouter, car c’est ce qui fait sa spécialité: c’est cette question moins sa réponse.“ Roland Barthes bestimmt in einem Essay von 1962 die Spezifität von Literatur allgemein als Sinnfrage ohne Antwort. Konsequent wünscht er sich eine Literaturgeschichte, die keine Geschichte der unterschiedlichen literarischen Antworten auf die Frage nach dem Sinn mehr wäre, sondern die Geschichte der Sinnfrage selbst. Darin würden idealerweise alle literarischen Texte vorkommen – nicht nur so frappant passende wie Friedrich Dürrenmatts makabre Erzählung Die Wurst mit ihrem rätselhaften Schlusssatz: „Die Welt wird ein ungeheures Fragezeichen.“ Mittlerweile ist es ein gängiges Credo, Literatur sei, zumal in ihren modernen Gestalten seit dem 18. Jahrhundert, speziell für Fragen (und nicht nur Sinnfragen) zuständig. Auch Autoren und Autorinnen antworten auf die Interview-Frage nach der Aufgabe von Literatur gerne, Literatur müsse keine Antworten liefern, sondern Fragen stellen. Umso erstaunlicher ist, dass die ‚interrogative‘ Dimension von Literatur (Weder 2017; 2019) jedoch kaum je konkret analysiert wird. Welche Fragen wirft sie im Einzelnen auf und wie geht sie damit um? Gibt sie wirklich keine Antworten und inwiefern? Wie rechnet sie dabei mit den Lesenden? Wie verhalten sich Fragen und Erzählen zueinander? Aber vor allem: Wie genau funktioniert jeweils Fragen in der Literatur – und wie anders als in den Wissenschaften, namentlich der Philosophie, die ihrerseits fundamental fragend vorgeht.
Ohne das Fragewort ‚warum‘ ist Philosophie nicht zu denken. Zugespitzt formuliert beginnt Philosophie überhaupt erst dort, wo etwas in Frage kommt, wo zwischen Notwendigem und Möglichem, zwischen Selbstverständlichem und Unbekanntem eine Differenz bemerkbar wird. Das sokratische Fragen zielt kontinuierlich auf diese Unterscheidungen. Es problematisiert jede Gewissheit als vermeintliche, was die philosophische Disziplin bis heute grundlegend prägt. Welcher Stellenwert allerdings der Frage unabhängig von ihrer Beantwortung zukommt, ist umstritten. Hans Blumenberg etwa fordert im Essay Nachdenklichkeit, dass das „Recht der Philosophie“ nicht eingeschränkt werden dürfe „durch den Zwang, sich die Frage nach der Beantwortung der Fragen schon von vornherein und zu deren Disziplin zu stellen“. Zwar erschöpft sich nach Blumenberg Philosophie nicht im Fragen – ohne jenes aber gibt es für ihn keine Philosophie. Radikaler noch als Blumenberg betont beispielsweise Denis Diderot das In-Frage-Stellen als philosophische Tugend. In seinem Werk wird jede Antwort von (mindestens) einer Geste des Fragens begleitet. Symptomatisch zeigt dies die kurze Erzählung „Wie denken Sie darüber?“, welche die Frage nicht nur als Überschrift trägt, sondern auch damit endet. Ganz anders, aber vergleichbar zentral sind Fragen in jüngerer Zeit etwa in den Schriften von Judith Butler. Darin kommt es wiederholt zu Frage-Kaskaden, ohne dass in der Folge alles Aufgeworfene beantwortet würde. Ist Fragen defizitär, solange es nicht in entschiedene Antworten mündet? Oder ist es als eigenständiges Verfahren zu begreifen, das Räume öffnet, in denen gemeinsames Denken möglich wird? Wenn ja, wäre weiter zu untersuchen, welche Frageform die Adressierten als Ebenbürtige ernst nimmt – und welche jene an der Nase herum oder ins Nichts führt.
In Literaturwissenschaft wie Philosophie ist die Analyse von Formen, Funktionen und Folgen des Fragens ein Desiderat, dem die interdisziplinäre Tagung begegnen will, um diese Dimension aus fachinternen Selbstverständlichkeiten zu lösen und im besten Sinn fragwürdig werden zu lassen. Dies soll im vergleichenden Blick auf literarische und philosophische Texte geschehen – in der Hoffnung, es sei mehr darüber zu sagen als etwa, Literatur leiste sich im Gegensatz zur Philosophie den Luxus von Fragen ohne Antworten.

Mit Beiträgen von Michael Gamper, Eva Geulen, Daniela Hahn, Christoph Henning, Christoph Hoffmann, Sophie Loidolt, Katrin Meyer, Michael Niehaus, Andrea Polaschegg, Tilo Wesche, sowie einer Lesung und Gespräch mit Jonas Lüscher.

Konzeption & Organisation: Christine Weder, Christine Abbt