Veranstaltungsdetails

Generationenbeziehungen als gesellschaftliche Ressource - Konzepte und Messversuche

24.09.2009, 17:30 - 20:00
Salle Rossier, Hôpital des Bourgeois, Fribourg,
SAGW in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)

Seit einigen Jahren wird den ökonomischen Aspekten von Generationenbeziehungen grosse Beachtung geschenkt. Ungleich weniger Beachtung als die so genannten Generationenbilanzen fand bisher der nicht-ökonomische Nutzen von Generationenbeziehungen. Dabei geht es um die Frage, inwiefern gute Generationenbeziehungen eine gesellschaftliche Ressource bilden.

Im Rahmen des Netzwerkes Generationenbeziehungen hat die Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) bei den Professoren Michael Nollert und Monica Budowski (Universität Freiburg) eine Studie zur «Konzeptualisierung und Messung des nicht-ökonomischen, gesellschaftlichen Werts von Generationenbeziehungen» in Auftrag gegeben. Durch Analyse der Forschungsliteratur zum Thema wird unter anderem mehr abgeklärt, ob, wie und in welchen Zusammenhängen heute der gesellschaftliche Nutzen von Generationenbeziehungen thematisiert wird, welche Indikatoren dafür verwendet werden und in welchem Verhältnis diese zur Dimension Nachhaltigkeit stehen. Auf dieser Grundlage ist es möglich Überlegungen für die künftige Konzeptualisierung und Messung der Qualität von Generationenbeziehungen anzustellen.

Ziel
Die Studie umfasst drei Untersuchungsmodule mit den folgenden Zielen:

  • Beim Modul «Generationenbeziehungen als Quelle von Sozialkapital» wird untersucht, in welchen gesellschaftlichen Bereichen (Familie, Arbeit usw.) intergenerationelles Sozialkapital generiert wird und welchen positiven und negativen bzw. sozialintegrativen und desintegrativen Nutzen dieses Sozialkapital hat.
  • Im Rahmen des Moduls «Generationenbeziehungen als Quelle sozial nachhaltiger Entwicklung» wird der Frage nachgegangen, inwiefern Generationenbeziehungen zur Nachhaltigkeit gesellschaftlicher Solidarität beitragen und auf welcher Art und Weise gesellschaftliche Institutionen und AkteurInnen diese Nachhaltigkeit beeinflussen.
  • Ziel des Moduls «Messung der Qualität von intergenerationellen Beziehungen» ist eine kritische Würdigung der qualitativen und quantitativen Instrumente zur Messung der zentralen Konzepte mit besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses zwischen den als wertvoll eingestuften Indikatoren.

Die Fragen der Konzepte und Messversuche von Generationenbeziehungen als gesellschaftliche Ressource sowie der Indikatoren sollen entlang der folgenden Leitragen und Thesen diskutiert werden.

Leitfragen

  • Inwiefern stellen Generationenbeziehungen eine gesellschaftliche Ressource dar?
  • Wie lassen sich Generationenbeziehungen als gesellschaftliche Ressourcen theoretisch konzeptualisieren?
  • Wie lassen sich entsprechende Konzepte operationalisieren und messen? Welche Schwierigkeiten ergeben sich dabei?
  • Welche bestehenden sozialwissenschaftlichen Indikatoren könnten zur Messung des gesellschaftlichen Werts von Generationenbeziehungen herangezogen werden?
  • Wie lassen sich bestehende und neu zu schaffende Indikatoren zur Messung des Wertes von Generationenbeziehungen in die Sozialberichterstattung integrieren und inwiefern können diese zu einer verbesserten Erfassung der sozialen Dimension von Nachhaltigkeit beitragen?

Thesen

  1. Intergenerationelle Beziehungen sind in ihren Auswirkungen genauso ambivalent wie intragenerationelle. Einerseits erzeugen z.B. intrafamiliale Beziehungen in Form von Erziehungsarbeit Humanvermögen und sind als Quelle intergenerationeller Solidarität unverzichtbar für die Gesellschaft. Andererseits kann z.B. häusliche Gewalt die Humanvermögensbildung innerhalb der Familie stark beeinträchtigen. Zudem tragen intrafamiliale Beziehungen zur Reproduktion sozioökonomischer Ungleichheiten bei, etwa durch den Transfer von ökonomischem (z.B. Erbschaften), kulturellem oder sozialem Kapital. Diese Ambivalenz gilt es bei der Konstruktion sozialpolitischer Massnahmen zu beachten.
     
  2. Unentgeltliche intergenerationelle Beziehungsarbeit wird hauptsächlich von Frauen geleistet. So tragen Frauen die Hauptlast der unentgeltlichen Erzeugung von Humanvermögen und von Pfl egeleistungen. Im Sinne des Gleichstellungspostulats ist es wünschenswert, dass diese unentgeltlichen Leistungen gleichmässiger zwischen den Geschlechtern verteilt und/oder besser honoriert werden, etwa durch Sozialtransfers oder via Steuern.
     
  3. Die Forschung über intergenerationelle Beziehungen vernachlässigt die familienübergreifenden Kontakte. Viele Beiträge suggerieren, dass damit primär Kontakte zwischen Grosseltern, Eltern und Kindern gemeint sind. Im Unterschied dazu spricht das makrosoziologische Sozialkapital-Konzept, aber auch das Konzept der «Zivilgesellschaft » dafür, dass ausserfamiliale Beziehungen genauso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger sind als intrafamiliale. So setzen gesellschaftliche Modernisierung und Kohäsion voraus, dass Menschen nicht nur mit Mitgliedern der eigenen Familie, sondern auch konstruktiv in öffentlichen Räumen und in freiwilligen Assoziationen mit Menschen kooperieren, die weder der eigenen Familie noch derselben Generation angehören.
     
  4. Der Sozialstaat bremst die Bereitschaft zu intergenerationeller Solidarität nicht. Wird davon ausgegangen, dass der Sozialstaat von der Pfl icht befreit, in Not geratene Familienangehörige zu unterstützen, wäre an sich absehbar, dass damit auch die Unterstützungsbereitschaft schwindet (crowding out). Die bislang vorhandenen empirischen Studien dokumentieren indes, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Von daher scheint die Sozialpolitik gut beraten, die intergenerationellen Hilfeaktivitäten in der Bevölkerung nicht durch einen Abbau des Sozialstaats fördern zu wollen.
     
  5. Die empirische Sozialkapitalforschung differenziert nicht zwischen inter- und intragenerationellen Beziehungen. Aus Sicht der Theorie macht es keinen Sinn, zwischen diesen beiden Beziehungstypen zu unterscheiden, da sich beide gleichermassen sowohl positiv als auch negativ auswirken können. Wichtiger als die Differenz zwischen intra- und intergenerationellen Beziehungen ist die Differenz zwischen starken und schwachen Beziehungen. So zeigt sich, dass Freundschaften und die Familie (starke Beziehungen) vor allem im Hinblick auf das physische und psychische Wohlbefinden von Bedeutung sind. Wichtig im Hinblick auf materielle Ziele, sei es im Erwerbsleben oder sei es in der Politik, sind vor allem aber auch spontane Bekanntschaften am Arbeitsplatz, in der Ausbildung oder in freiwilligen Assoziationen (z.B. Parteien, Vereinen, Verbänden, Kirche).
     
  6. Der Kapitalstock und Nettonutzen intergenerationeller Beziehungen lässt sich zumindest zum jetzigen Zeitpunkt nicht empirisch eruieren. Sozialkapital-Indikatoren, die bei internationalen Vergleichen herangezogen werden, beschränken sich in der Regel auf Mitgliedschaften in freiwilligen Assoziationen. Ob eine solche Mitgliedschaft auch einen Zugang zu Ressourcen garantiert, bleibt dabei jedoch eine offene Frage. Hinzu kommt, dass die gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Assoziationen genauso wie jene der Familien sowohl positiv (Erzeugung von Humanvermögen) als auch negativ (z.B. soziale Exklusion, Fundamentalismus, Mafia) sein können. In diesem Sinne ist der Versuch, den Nutzen intergenerationeller Beziehungen zu messen, mit ähnlichen Problemen konfrontiert wie das Bruttoinlandprodukt, das u.a. auch dann ansteigt, wenn die Prävalenz von Unfällen, Krankheiten, Umweltschäden oder Eigentums- und Vermögensdelinquenz zunimmt.
     
  7. Intergenerationelle Beziehungen werden in der Debatte um soziale Nachhaltigkeit nicht direkt thematisiert und es existieren (bislang) keine Nachhaltigkeitsindikatoren für ihre Erfassung. Bei der Konzeptualisierung von Nachhaltigkeit werden zwar der soziale, gesellschaftliche Zusammenhalt oder auch eine gerechte Gemeinschaft als wesentlicher Grundpfeiler hervorgehoben. Dabei wird jedoch nicht differenziert hinsichtlich der verschiedenen Formen intergenerationeller Beziehungen. Ausserdem fi ndet die mikrosoziologische Prämisse, dass soziales Kapital intergenerationell «vererbt» werden kann, kaum Entsprechung in der konkreten Ausgestaltung der Messkonzepte.