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Art Apologies: Pestalozzi – ein Denkmal entschuldigt sich

Konstanze Sailer und Dominik Schmidt | Memory Gaps
Gesellschaft – Kultur – Sprache Recht und Politik

In der Erinnerungskultur ist man gut beraten, wenn man die historische Verantwortung stets an die historisch Verantwortlichen bindet.

Es wäre falsch, die Verantwortung für später Eintretendes und Unvorhersehbares zu weit zurück zu projizieren. Es wäre demnach ähnlich falsch, etwa Johann Heinrich Pestalozzis literarisch-opportunistischen Antisemitismus für den rassischen Antisemitismus und die unfassbaren Verbrechen Adolf Hitlers verantwortlich zu machen, wie es falsch wäre, die Kapitalismuskritik von Karl Marx für die Ermordung der russischen Zarenfamilie oder gar die Verbrechen Stalins verantwortlich zu machen. Dass jedoch eine negative Vorbild- bzw. Vorbereiterfunktion von Johann Heinrich Pestalozzi – und vielen anderen «humanistisch-literarischen Antisemiten» – ausgegangen war, bleibt unbestritten. Pestalozzi hat sich an den Antisemitismus seiner Epoche angeglichen. Er operierte mit populistischen Stereotypen seiner Zeit und bediente sich des Antisemitismus. Eine in diesem Kontext höchst bedenkliche verbale Entgleisung aus der Feder Pestalozzis stellt das fiktive Dorf «Mauschelhofen» dar:

«Es war ein gesegnetes Dorf, aber Juden, man sagte mir nicht, ob getaufte oder ungetaufte, nisteten sich ein, wurden reich und das Dorf arm. Jetzt stehen die Kinder seiner ehemals gesegneten Häuser, täglich als Bettler, vor den harten Türen der Juden, und die armen Leute müssen in allweg tun, was die Judengasse will.» … und Pestalozzi weiter: «So ist es jederzeit, und so lang‘ es so ist, werden die Juden in Mauschelhofen gesegnet, und die alten Einwohner Bettler bleiben wo Juden und Judengenossen einnisten, da ist außer der Judengasse kein Gemeingeist mehr denkbar; und wo in einer Gemeinde kein Gemeingeist mehr denkbar ist, da ist auch jede Gemeinde keine wirkliche Gemeinde mehr. Diesem Übel aber sollte freilich mit der größten Sorgfalt vorgebeugt werden

(Johann Heinrich Pestalozzi: Sämtliche Werke, Bd. 11; Schriften aus der Zeit von 1795–1797, S. 181.)

Pestalozzis antisemitische Rhetorik war und ist abzulehnen, ebenso wie etwa Karl Marx‘ Schrift «Zur Judenfrage», in der es gleichfalls vor antisemitischen Stereotypen nur so wimmelt.

Das Gegenteil von Mauschelhofen

Der Kinderarzt, Pädagoge und Schriftsteller Janusz Korczak begleitete 1942 aus moralischer Selbstverpflichtung etwa 200 Waisenkinder in die Gaskammer des NS-Vernichtungslagers Treblinka.

Henryk Goldszmit wurde unter seinem Künstlernamen Janusz Korczak bekannt. Er war ein polnischer jüdischer Kinderarzt, Pädagoge, Schriftsteller und Leiter eines im Jahr 1912 nach seinen eigenen Plänen errichteten Waisenhauses in Warschau. 1878 geboren, bestand Korczak im August 1942 darauf, die etwa 200 jüdischen Kinder seines Warschauer Waisenhauses, die von der SS abgeholt und in das NS-Vernichtungslager Treblinka deportiert wurden, zu begleiten. Obwohl er die Möglichkeit zur Flucht gehabt hätte, ließen er und seine Mitarbeiterin Stefania Wilczyńska die Kinder nicht im Stich. Wissend, dass dies auch für sie selbst den Tod bedeuten würde, begleiteten sie ihre Waisenkinder in die Gaskammer. Sie alle wurden vermutlich bereits kurz nach dem 5. August 1942 im Vernichtungslager Treblinka ermordet.

Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt

Das berühmte und gleichzeitig schwierige jüdische Sprichwort «Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt» gilt insbesondere auch für das Gedenken als ein Gegenwärtig-Machen von Geschehenem. Zu den grauenhaftesten aller Tatbestände der jüngeren Geschichte Europas zählt die infernalische Ermordung von mehr als 1,5 Millionen Kindern während des Holocaust.

Memory Gaps erinnert an die Tatsache, dass auch zahlreiche in Zürich geborene jüdische Kinder zu Opfern der NS-Diktatur wurden. An dieses historische Faktum zu erinnern bedeutet, es der Tabuisierung zu entreißen und nicht zu einer kollektiven Erinnerungslücke werden zu lassen.

Ohne das Pestalozzi-Denkmal zu verändern oder gar zu entfernen, könnte das heutige Zürich Johann Heinrich Pestalozzi eine virtuelle Entschuldigung verordnen. Diese könnte, in zahlreichen Sprachen abgefasst und mit QR-Codes zwecks vertiefender Information versehen, den kommenden internationalen Besuchern zugänglich gemacht werden. Eine fiktive historische Entschuldigung, die Pestalozzis Sprache nachempfunden ist. Eine Entschuldigung für seine antisemitischen Tiraden, die zwar nichts mit der NS-Zeit zu tun haben, sondern im Kontext seiner Zeit erfolgten, aber dennoch negative Vorbild- beziehungsweise Vorbereiterfunktion hatten.

Eine Entschuldigung bei jenen jüdischen Kindern, die lange nach Pestalozzis Ableben in Zürich geboren wurden und vor Beginn des Zweiten Weltkrieges mit ihren Eltern geflohen waren. Die etwa im von der NS-Wehrmacht besetzten Belgien verhaftet, deportiert und in den NS-Vernichtungslagern ermordet wurden:

Desiree Aviwa Bondi (* 23. März 1938 in Zürich; † 1942 im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau)

Marcel Pollak (* 11. März 1932 in Zürich; † 1942 im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau)

Lea Eisenberg (* 26. Juli 1927 in Zürich; † 1942 im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau)

Vor diesem Hintergrund erhält der Gedanke von Janusz Korczak, «jedes Kind hat das Recht auf den heutigen Tag», ein schier unendliches Gewicht und verschlägt die Stimme.

Memory Gaps

Memory Gaps ist eine Kunstinitiative des Gedenkens der deutsch-österreichischen Malerin Konstanze Sailer. Die 2015 gegründete Plattform erinnert mit Mitteln digitaler Erinnerungskultur an sämtliche Opfergruppen des Nationalsozialismus, insbesondere an ermordete jüdische Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen. Im Rahmen von Memory Gaps erfolgten zahlreiche künstlerische Interventionen im deutschen Sprachraum, die dazu beitrugen, wichtige kollektive Erinnerungslücken zu schließen und dem soziokulturellen Vergessen zu entreißen. Dominik Schmidt ist Sprecher der digitalen Kunstinitiative.

Titelbild

Foto: «Intervention: Art Apologies – Pestalozzi – Zürich», © Memory Gaps, 2021

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