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Die Volksschule soll fördern statt selektionieren

Markus Zürcher, SAGW

Der Tunnelblick auf den gegenwärtigen Arbeitsmarkt führt zu einer dysfunktionalen Bildungspolitik. Es ist Zeit für ein neues Bildungsverständnis in der Volksschule.

Die zahlreichen Lobgesänge auf das schweizerische Bildungssystem können nicht verdecken, dass es kränkelt: Gemäss Prognosen benötigt die Schweiz bis 2031 rund 45 000 neue Lehrkräfte auf Primarstufe, kann aber nur 34 000 Personen ausbilden (BfS, Oktober 2022). Auch in weiteren Bereichen fehlen Fachkräfte. Die Nachfrage nach Personal mit einem Hochschulabschluss oder einer höheren Berufsbildung übersteigt bereits heute das Angebot auf dem Schweizer Arbeitsmarkt (Tertiarisierungsdruck). Insbesondere gibt es zu wenig tertiär qualifizierte Fachkräfte in Pflege und Gesundheit, Ingenieurwesen, Informatik, Management, Rechtswesen und Sozialer Arbeit. Es ist absehbar, dass sich dieser Mangel durch den fortwährenden technologischen Wandel weiter verschärft.

Berufsspezifische Kenntnisse entwerten sich rasch

Dies hängt auch damit zusammen, dass sich die Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt schneller verändern denn je. Einmal erlernte berufsspezifische Bildungsstoffe entwerten sich in Windeseile: Während eine berufliche Grundbildung weiterhin einen erfolgreichen Eintritt in den Arbeitsmarkt erlaubt, reicht sie nicht mehr aus, um den steigenden oder sich verändernden Kompetenzanforderungen langfristig zu genügen. Prognosen gehen davon aus, dass nahezu 50 Prozent der heutigen Stellen verschwinden und 80 Prozent der derzeit neu ausgebildeten jungen Leute in einem Beruf arbeiten werden, den es heute noch nicht gibt.

Eine berufliche Grundbildung reicht nicht mehr aus, um den wachsenden Anforderungen des Arbeitsmarkts zu genügen.

Gefragt sind also fortwährende Weiterbildung (lebenslanges Lernen) und wohl vermehrt auch Umschulung. Dafür sind Personen besser gerüstet, die über eine Ausbildung auf Tertiärstufe und ausgebaute transversale Kompetenzen verfügen. Dies realisieren auch Eltern und streben für ihre Kinder vermehrt einen Hochschulabschluss oder eine höhere Berufsausbildung an.

Volksschule als Hebel nutzen

Wo sollte man ansetzen, um den Fachkräftemangel anzugehen? Gerade wegen des erwähnten Tertiarisierungsdrucks lautet die Antwort: bei der Volksschule. Dort beginnt der Ausbildungsweg aller jungen Menschen, die in der Schweiz aufwachsen. Dort entwickeln sich die Kinder und Jugendlichen. Dort wird entschieden, ob sie den Zugang zu einer tertiären Ausbildung erhalten – oder eben nicht. Im Nachfolgenden zwei Massnahmen, um eine zukunftsfähige Volksschule zu gewährleisten: 

Humanvermögen fördern als Bildungsziel

In seiner Schrift «Bildung ist Bürgerrecht» (1965) hat der Soziologe Ralf Dahrendorf den ökonomisch geleiteten «Manpower Approach» (Arbeitsbedarfsansatz) in der Bildung mit dem «Social Demand Approach» ergänzt: Das Recht auf eine intensive Grundausbildung, die befähigt, sich sozial und politisch «wirksam beteiligen», sowie das Recht auf eine weiterführende Ausbildung, die der eigenen Leistungsfähigkeit entspricht. Der Staat soll in diesem Verständnis Bildung nicht nur anbieten, sondern sich darum kümmern. Dahrendorf erhoffte sich davon eine moderne Gesellschaft, in der alle über Bildung reden, in der es Spass macht, die Schule zu besuchen; er erhoffte sich eine Bildung, die den Menschen hilft, ihr Lebensglück zu finden.

Die Volksschule sollte das Humanvermögen fördern: Daseinskompetenzen und Resilienz, Soziabilität sowie Fachkompetenzen.

In der schweizerischen Volksschule hat sich jedoch der «Manpower Approach» durchgesetzt. Bildung wird als Mittel verstanden, um für die gegenwärtige Nachfrage des Arbeitsmarktes das passende Angebot bereitzustellen. Dass dies nicht funktioniert, ja sogar dysfunktional ist, zeigen der Fachkräftemangel, gestresste Jugendliche und frustrierte Lehrpersonen. Notwendig ist daher ein umfassendes Bildungsverständnis, welches sich am breit abgestützten Humanvermögen mit seinen drei Dimensionen orientiert: 

  • die Daseinskompetenzen beziehungsweise das Vitalvermögen (Resilienz), das Menschen befähigt, mit den alltäglichen Herausforderungen, Widrigkeiten und Frustration konstruktiv umzugehen: Aufgebaut werden in der Kindheit die psychischen, emotionalen und sozialen Kompetenzen, das physische und psychische Wohlergehen,
  • die Soziabilität beziehungsweise das Sozialkapital: der Aufbau von Werthaltungen und Handlungsorientierungen sowie von verlässlichen sozialen Beziehungen für eine erfolgreiche Lebensführung,
  • und die dritte, instrumentelle Dimension, die Fachkompetenzen und -fähigkeiten, die für qualifizierte Arbeiten notwendig sind, beziehungsweise das Humankapital für das materielle Wohlergehen.

Später selektionieren, anders selektionieren

Die Selektionsmechanismen im schweizerischen Bildungssystem sind, wie oben skizziert, nicht kompatibel mit einem umfassenden Bildungsverständnis und dem «Social Demand Approach». Derzeit sieht die Volksschule in der Schweiz zwei Selektionsstufen vor, die erste im Alter von 12 Jahren (Übergang von der Primarstufe in die Sekundarstufe I) und die zweite im Alter von 15 Jahren (Übergang von der Sekundarstufe I in die Stufe II). Dieser Selektionsmechanismus ist aus mehreren Gründen problematisch:

Erstens entwickeln sich Kinder und Jugendliche nicht linear nach Altersjahren. Entwicklungssprünge können zu unterschiedlichen Zeitpunkten erfolgen, was den «Spätzündern» zum Verhängnis werden kann.

Zweitens ist aus der Forschung längst bekannt, dass – gerade in den frühen Schuljahren – die Bildungsnähe und der soziale Hintergrund der Eltern für die Leistungen der Schüler ausschlaggebend sind und nicht deren Begabungen oder Talente.

Drittens sind Prüfungen als Messinstrument wenig aussagekräftig, weil sie in einem krassen Kontrast zur Problembearbeitung und Lösungsfindung im täglichen Leben stehen. Sei es in der Familie, mit den Freunden oder im Beruf: Kaum je wird ohne Kommunikation mit anderen Menschen, ohne Beizug von Informationen und mit willkürlichen Zeitvorgaben entschieden und umgesetzt. Prüfungen messen also, wer gut Prüfungen schreiben kann.

Dazu kommt viertens, dass die Durchlässigkeit des schweizerischen Bildungssystems in der Praxis kleiner ist als in der Theorie. Noch immer wählen wenige junge Menschen den Weg über die Berufsmatura an die Hochschule. Wer die Berufsmaturität nicht bereits während der Lehre absolviert, holt diese auch nur selten nach. Der Zugang zur gymnasialen Maturität ist zudem in deutschsprachigen Kantonen durch Quoten stark beschränkt. Zuletzt ist auch der Übergang zwischen den verschiedenen Tertiärstufen schwierig.

Prüfungen sind ein schlechtes Messinstrument, weil sie im krassen Kontrast zur Problembearbeitung und Lösungsfindung im täglichen Leben stehen.

Ein erster Schritt zur Realisierung eines umfassenden Bildungsverständnisses muss deshalb die Verschiebung der Selektion sein: von der abgebenden zur aufnehmen Schule, vom Jugendalter ins junge Erwachsenenalter. Dies würde die Chancengerechtigkeit stärken und erlauben, die «Begabungsreserven» (Dahrendorf 1965) besser zu erschliessen.

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Markus Zürcher ist promovierter Soziologe und Generalsekretär der SAGW. 

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