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Wieviel Wildnis braucht der Mensch? Gedanken aus der Nutzungspraxis

Andreas Friedli, Volkswirtschafter
Nachhaltigkeit

Der Mensch braucht keine Wildnis, die Menschheit schon. Relevanter ist aber die Frage, wieviel Mensch die Wildnis erträgt, bevor sie ausstirbt. Ein Plädoyer für die Beschränkung.

Wildnisgebiete stehen im Fokus verschiedenster Interessen und geraten zunehmend unter Nutzungsdruck. Um die Ökosystemleistungen dieser Räume langfristig zu sichern, lohnt sich eine ökonomische Perspektive: Wie können wir die Nachfrage nach Wildnis reduzieren? Welche Bedürfnisse stecken dahinter, und wie können diese alternativ befriedigt werden?  

Den nachfolgenden Überlegungen liegt ein vergleichsweise enger, traditioneller und praxisnaher Begriff von Wildnis zugrunde. Demzufolge zeichnen sich Wildnisgebiete insbesondere durch folgende Merkmale aus1:

  • Weitgehendes Fehlen von anthropogenen Einflüssen
  • Fehlende oder stark eingeschränkte Erschliessung
  • Keine Einschränkung der natürlich vorkommenden Prozesse
  • Eingeschränkte Begehbarkeit

Diese Merkmale legen nahe, dass solche Räume von erheblichem ökologischem Wert sind und deshalb eines besonderen Schutzes vor Beeinträchtigung bedürfen2

Räume, in denen anthropogene Einflüsse weitgehend fehlen, sind heute ein knappes Gut

Unbesehen davon rechtfertigen ökonomische und ethische Erwägungen ein aktives Schutzhandeln: Räume, in denen anthropogene Einflüsse weitgehend fehlen, sind heute ein knappes Gut. Auch mit Blick auf die Generationengerechtigkeit3 sind wir verpflichtet, die Nutzung von Wildnisgebieten zu steuern und sie integral zu erhalten.

Der einzelne Mensch braucht keine Wildnis

Die Abwesenheit menschlicher Einflüsse lässt Raum, um individuelle Präferenzen und Sehnsüchte zu projizieren. Eine emotional aufgeladene und medial beeinflusste Vorstellung von Wildnis wird dadurch zum Leitmotiv. Sie verdeckt, dass es für die Erfüllung der zugrundeliegenden Bedürfnisse nach Naturnähe, Erlebnis und Erholung keine Wildnis braucht. Sollen Wildnisgebiete langfristig erhalten bleiben, ist diese Erkenntnis in der Nutzungspraxis von ökologisch wertvollen Flächen (auch ausserhalb von Wildnisgebieten) umzusetzen.

Für die Erfüllung von Bedürfnissen nach Naturnähe, Erlebnis und Erholung braucht es keine Wildnis.

Während das Vorhandensein von Wildnis also keinesfalls zwingend für das Wohlergehen des Menschen ist, so gilt reziprok: Die Entwicklung der Wildnis bedarf der Anwesenheit des Menschen nicht. Im Gegenteil, der anthropogene Einfluss gefährdet die Existenz der Wildnis sogar grundlegend. Einerseits werden der Wildnis durch die Anwesenheit des Menschen die definitorischen Grundlagen entzogen. Andererseits, und dies ist weit gravierender, wirkt sich die Anwesenheit des Menschen summarisch auf die Qualität der Wildnis aus. Mit seinem Wirken nimmt der Mensch direkt Einfluss auf die natürlichen Prozesse vor Ort. Ausgehend vom Ziel des ungeschmälerten Erhalts von Wildnisgebieten ist dieses Wirken in aller Regel als negativ zu beurteilen und deshalb zu minimieren.

Den «Preis» für Wildnisnutzung erhöhen

Wildnis wird, wie jedes öffentliche Gut, tendenziell überbeansprucht. Dies impliziert einen erhöhten Handlungsbedarf aus Sicht der Gesellschaft, beziehungsweise des Staates. Dabei unterstellen wir aufgrund der zahlreichen Substitutionsmöglichkeiten eine relativ elastische Nachfrage, sobald sie eine bestimmte Sockelnachfrage übersteigt. Letztere kann durch angebotszentrierte Massnahmen kaum beeinflusst werden, da die Bereitschaft, auf andere Gebiete mit hohem Naturwert auszuweichen, hier sehr gering ist. Um die Nachfrage nach Wildnis zu reduzieren, muss der Preis dafür entsprechend erhöht werden. Dabei ist der Preis nicht vorwiegend pekuniär, sondern umfassend als Aufwand für die Nutzung der Wildnis zu verstehen.

Aus gesellschaftlicher Sicht ist eine Steuerung der Nachfrage mittels monetärer Preissetzung (wie einer Eintritts- oder Nutzungsgebühr) unerwünscht, da sie einkommensstarke Gruppen bevorteilt. Darüber hinaus kann sie falsche Anreize setzen, indem sie implizit signalisiert, dass mit der Entrichtung des Preises das Recht auf eine den individuellen Bedürfnissen angepasste, mitunter unerwünschte oder gar schädliche Nutzung erworben wird.

Nutzungshindernisse bewusst nicht abbauen

Die Kosten für die Nutzung müssen deshalb mit anderen Mitteln erhöht werden. Im Vordergrund stehen dabei Strategien, welche die Zugänglichkeit der Wildnisgebiete erschweren und damit die Menschen davon abhalten, diese Räume aufzusuchen. Dabei sind Massnahmen, welche die Erreichbarkeit und die Begehbarkeit erschweren, gleichermassen erwünscht. Konkret bedeutet dies beispielweise den Verzicht auf eine infrastrukturelle Erschliessung – namentlich für den motorisierten Verkehr –, das Fehlen eines ausgebauten Wegnetzes mit der entsprechenden Signaletik und gegebenenfalls gar den Rückbau bestehender Infrastrukturen.

Um die verbleibende Nachfrage im Wildnisgebiet optimal zu managen, sind zudem entsprechende Verhaltensregeln für den Aufenthalt notwendig. Um diese durchzusetzen, bedarf es in der Regel einer formellen Unterschutzstellung des Gebiets.

Räume trennen, Nutzung lenken

Von einem solchen Infrastrukturverzicht sind nicht nur die unmittelbare Wildnisnachfrage, sondern insbesondere auch wirtschaftliche Interessen betroffen. Er birgt daher ein beachtliches Konfliktpotenzial. Es bedarf deshalb einer breiten politischen und gesellschaftlichen Diskussion, bevor eine bewusste Ausscheidung von Wildnisgebieten umgesetzt und formell verankert werden kann. Dazu gehört auch die sorgfältige Evaluation potenzieller Wildnisgebiete. Sind diese beispielsweise saisonal nur stark eingeschränkt erreichbar, reduziert dies das Konfliktpotenzial bereits erheblich.

Es bedarf einer breiten Diskussion, bevor eine bewusste Ausscheidung von Wildnisgebieten formell verankert werden kann.

Klar hiervon zu trennen ist die Frage nach dem zweckmässigen Umgang mit zunehmendem Nutzungsdruck in ökologisch wertvollen Naturräumen, die sich nicht (mehr) als Wildnisgebiete eignen. Hier gibt es eine breite Palette von Massnahmen, die in der Praxis Anwendung finden (wie im Projekt «Nature park stations in Bernese parks» der Wyss Academy for Nature). Die Erfahrung zeigt, dass die Koexistenz von Mensch und Natur auch in sensiblen und geschützten Lebensräumen grundsätzlich möglich ist, sofern die Gesellschaft bereit ist, das notwendige Werkzeug zu implementieren.

Das Bedürfnis des Menschen nach einem intensiven Austausch mit der ihn umgebenden Natur muss somit prioritär dort stattfinden, wo die infrastrukturellen Voraussetzungen gegeben sind und die Nutzungsgruppen aktiv angesprochen und gelenkt werden können. Wildnisgebiete erfüllen diese Voraussetzung definitionsgemäss nicht. Dies schliesst nicht aus, dass Wildnis- und Nichtwildnisgebiete in direkter Nachbarschaft zueinander existieren und sich gemäss der ihnen zugedachten Bestimmung entwickeln können – sofern sie zweckmässig voneinander getrennt werden. Gerade in grossräumigen (nationalen) Nationalparks finden sich exzellente Beispiele für ein derartiges Setting. Den individuellen Gegebenheiten vor Ort angepasst, kann dies durchaus auch für regionale Naturpärke eine sinnvolle Option sein.

Referenzen

Moos, S., S. Radford, A. Atzigen, N. Bauer, J. Senn, F. Kienast, M. Kern, K. Conradin (2019): Das Potenzial von Wildnis in der Schweiz. Bern.

Dasgupta, P. (2021): The Economics of Biodiversity: The Dasgupta Review. Abridged Version. London, HM Treasury.

Urban H.J., C. Ehlscheid (2020): Generationengerechtigkeit – Grenzen und Potenziale eines soziologischen Kernbegriffs. Aus Politik und Zeitgeschichte. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, Berlin, Gera.

Zum Autor

Zum Autor

Andreas Friedli ist Volkswirtschafter und Projektleiter der Pärke von nationaler Bedeutung und des UNESCO Weltnaturerbes im Kanton Bern. Er ist unter anderem Mitglied der Steuergruppe für das Projekt der Naturparkstationen in Berner Pärken an der Wyss Academy in Bern.

andreas.friedli1(at)be.ch
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