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Food 4.0: technische Innovation, gesellschaftlicher Fortschritt?

Heinz Nauer
Nachhaltigkeit

Hafermilch und Insektenriegel, Sustainable-Food-Futures und Consumption Corridors, Precision Farming und Hightech-Landwirtschaft, Kuh 4.0, Acker 4.0: Es gibt viele Produkte, Entwicklungen, Forschungsbegriffe und Schlagworte, die in der laufenden Diskussion über eine nachhaltige Ernährung ins Feld geführt werden – unter dem Label «Food 4.0» auch von den Akademien der Wissenschaften Schweiz. In der Mehrjahresplanung 2021–2024 steht dazu: «Um allen Ansprüchen von Konsumenten, Politik und Umweltschutz gerecht zu werden, braucht es technische Innovation entlang der gesamten Lebensmittelwertschöpfungskette.»

So faszinierend Innovationen gerade im Bereich der Produktion von Lebensmitteln sind, sie müssen in ihrem (grenz-)übergreifenden sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und ökologischen Kontext diskutiert werden. Der bekannte Agrarwissenschaftler und langjährige Leiter des Forschungsinstituts für biologischen Landbau (FiBL) Urs Niggli bezeichnet in seinem Buch «Alle satt? Ernährung sichern für 10 Milliarden Menschen» (2021) die Befürchtung, dass Innovationen weiteren Druck auf die menschlichen und natürlichen Ressourcen auslösen, als wahrscheinlich wichtigsten Aspekt der zukünftigen Diskussion über nachhaltige Ernährung.

How can we ensure future food security without treating people unfairly or leaving them behind?

Sapea, A sustainable food system for the European Union, 2020

Jedenfalls birgt jede Form von Ernährung, ob herkömmlich oder neu, nicht nur technologische, ökologische und wirtschaftliche, sondern auch politische und soziale Herausforderungen. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive stellen sich Fragen wie: Trägt Food 4.0 zur Reduktion von sozialer Ungleichheit bei oder verschärft sie diese noch? In welchem Verhältnis stehen Innovationen im Lebensmittelbereich zu politischer Governance und (direkter) Demokratie? Und bringen sie neben technologischem auch gesellschaftlichen Fortschritt? Oder wie es die Autoren des Sapea-Berichts «A Sustainable Food System for the European Union» (2020) formulieren: «How can we ensure future food security without treating people unfairly or leaving them behind?»

Vier Herausforderungen

1) Monopole

Mit den heutigen Technologien in der konventionellen Landwirtschaft liesse sich die Weltbevölkerung durchaus ernähren. Unterernährung und Hungerkrisen sind auch die Folge von Monopolen über die ganze Produktions- und Lieferkette. So kontrollieren heute lediglich vier Firmen etwa 75 Prozent des weltweiten Getreidehandels, im Saatgutmarkt sieht es nicht viel anders aus. Und auch in der Digitalisierung der Landwirtschaft wird vor Monopolbildung gewarnt.

2) Food Waste

Von den 2,8 Millionen Tonnen, die durch den Lebensmittelkonsum in der Schweiz auf dem Weg von der Ernte bis auf den Teller insgesamt verloren gehen, sind rund zwei Drittel vermeidbare Verluste. Einen grossen Anteil daran haben die Haushalte: Schweizerinnen und Schweizer verschwenden im Durchschnitt rund 90 Kilogramm essbare Lebensmittel pro Jahr. (Und schätzen ihren eigenen Food Waste um rund das Zehnfache tiefer ein.) Der US-amerikanische Publizist Vance Packard stellte bereits vor 60 Jahren die einfache These auf, dass übermässiger Konsum der Ursprung von Abfall ist. Man kann also versuchen, Food Waste politisch und regulatorisch aufwändig zu disziplinieren – oder unbürokratisch weniger zu konsumieren (vgl. Arnold, 2021). Nicht zuletzt hat Food Waste auch mit tiefen Preisen zu tun: Schweizer Haushalte wenden heute noch rund sieben Prozent ihres Budgets für Lebensmittel auf, 1950 war es noch rund ein Drittel.

3) Demokratische Legitimität

Die gesellschaftlichen Ansprüche an die Landwirtschaft, Nahrungsproduktion und Ernährungssicherheit sind hoch und können mit den bestehenden Massnahmen kaum eingelöst werden. «Das Korsett einer Sektorpolitik ist momentan schwer mit der Vision einer umfassenden Ernährungspolitik vereinbar», schreibt die Schweizerische Gesellschaft für Agrarwirtschaft und Agrarsoziologie in der Ausschreibung für ihre nächste Jahrestagung. Doch wie lassen sich in einer Demokratie drastische Änderungen und ein Wandel von Lebensstilen gestalten und durchsetzen? Die Politologin Karin Ingold schlug mit Blick auf den Klimawandel in einem Artikel (2020) drei Lösungsansätze vor: längere politische Wahlzyklen; stärkere Partizipation der Bevölkerung (man beachte das Beispiel Uster); Wissen erweitern und bessere Zusammenarbeit von Wissenschaft und Politik. Entscheidend für eine substanziellen Wandel ist aber die demokratische Legitimität und somit die politische Akzeptanz durch die Bürgerinnen und Bürger.

Das Korsett einer Sektorpolitik ist momentan schwer mit der Vision einer umfassenden Ernährungspolitik vereinbar.

Schweizerische Gesellschaft für Agrarwirtschaft und Agrarsoziologie

4) Narrative

Versprechen einer nachhaltigen Ernährung üben im Bereich von Lebensmittelinnovationen zweifelsohne grossen Einfluss auf die Zukunft aus. Wie ein solches Future Making durch Narrative aber funktioniert und wie von vielen Menschen geteilte und verbreitete Erzählungen Verhalten genau beeinflussen, ist nicht sehr gut erforscht. Wer erzählt die Stories und wer sind die Adressaten des Storytellings? Gerade im Bereich des Redens über Nachhaltigkeit, Ernährung und Konsumgewohnheiten gibt es starke kollektive Vorstellungen, die sich mitunter nicht trennscharf von kollektiven Fiktionen abgrenzen lassen.

Die Ansprüche ans Ernährungssystem puncto Produktivität, Qualität, Nachhaltigkeit, Ethik und Legitimität werden in Zukunft nicht kleiner werden. Wie der Sustainable-Food-Report von Sapea festhält, wird ihnen eine Steigerung der Produktivität allein, und sei sie noch so nachhaltig, nicht gerecht werden können: «We also need to change from linear mass consumption to a more circular economy — which will mean changing our norms, habits and routines.» Und unbedingt auch müssen Nahrung und Lebensmittel in ihren tiefen sozialen und kulturellen Bedeutungen begriffen werden.

Referenzen

Akademien der Wissenschaften Schweiz (2021): Strategische Mehrjahresplanung 2021–2024.

Arnold, Nadine (2021): Du verschwendest pro Jahr 90 Kilogramm essbare Lebensmittel – und jetzt?, in: Konsum: Auf dem Weg zu einer nachhaltigen Transformation? (Bulletin der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften 27,2), S. 38–41. https://doi.org/10.5281/zenodo.4752895 

Auderset, Juri und Peter Moser (2018): Permanenz des Unbehagens. Epistemischer Wandel und agrarpolitische Re-Regulierungen im Zeitalter des Neoliberalismus, in: Ludi, Regula, Matthias Ruoss und Leena Schmitter (Hg.): Zwang zur Freiheit. Krise und Neoliberalismus in der Schweiz, Zürich, S. 37–60. Online: www.histoirerurale.ch 

Bundesamt für Umwelt: Lebensmittelabfälle (letzte Änderung 15.02.2021).

Hardegger, Angelika und David Vonplon: Der Chef des mächtigsten Schweizer Agrarkonzerns sagt: «Die Grenze zwischen bio und konventionell verschwimmt», Interview mit Martin Keller, in: Neue Zürcher Zeitung, 16.2.2021.

Ingold, Karin (2020): Demokratie in Zeiten der Krise: Ist dieses Regime effizient, wirkungsvoll und nachhaltig?, in: Bulletin der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften 26,3, S. 29–32. https://doi.org/10.5281/zenodo.4045891 

Niggli, Urs (2021): Alle satt? Ernährung sichern für 10 Milliarden Menschen, Salzburg.

Parise, Fanny (2021): Le mythe de la consommation responsable, in: Konsum: Auf dem Weg zu einer nachhaltigen Transformation? (Bulletin der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften 27,2), S. 54–57. https://doi.org/10.5281/zenodo.4968354 

Sapea (2020): A sustainable food system for the European Union (Evidence Review Report 7). Online: www.sapea.info

Schneider, Tanja (2021): Food, finance, futures: how storytelling shapes the sustainable food market, in: Konsum: Auf dem Weg zu einer nachhaltigen Transformation? (Bulletin der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften 27,2), S. 58–61. https://doi.org/10.5281/zenodo.5014629