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«Ich weinte, und ich schrieb»

Interview: Lea Haller und Zélie Schaller
Gesellschaft – Kultur – Sprache

Die afghanische Journalistin und Wirtschaftswissenschaftlerin Najibah Zartosht gehört zu den Stimmen des Widerstands gegen die Taliban. Heute im Exil in der Schweiz, erzählt sie von ihrer Flucht, davon, was sie verloren hat und vom Risiko, dem sich afghanische Frauen aussetzen, um die Öffentlichkeit zu alarmieren.

Im August 2021 kamen die Taliban in Afghanistan an die Macht, die ausländischen Truppen verliessen das Land überstürzt. Seither ist die Menschenrechtslage katastrophal. Unzählige Menschen verloren ihre Stelle, die Haushalteinkommen brachen ein. Freie Medien, Literatur, Kunst, Musik, humanistische Bildung – alles haben die radikalislamischen Gotteskrieger abgeschafft. Es drohen politische Verfolgung und willkürliche Festnahmen. Am härtesten traf es die Frauen. Zuerst war die Vollverschleierung eine Empfehlung, heute ist sie Pflicht. Frauen dürfen keiner Arbeit mehr nachgehen. Sie dürfen nicht ohne männliche Begleitung reisen. Und seit August dieses Jahres dürfen sie in der Öffentlichkeit auch nicht mehr sprechen. 

Zahlreiche Menschen flohen aus dem Land – unter ihnen auch die afghanische Journalistin und Wirtschaftswissenschaftlerin Najibah Zartosht. Über Pakistan gelangte sie in die Schweiz. Zusammen mit Weggefährtinnen und Freunden publiziert sie ein Online-Magazin, das Afghanistans Frauen eine Stimme gibt. Wir treffen sie an einem heissen Augusttag in einem Café in Zug, wo sie heute lebt, und sprechen mit ihr über die Macht der Wörter in einer stummgeschalteten Gesellschaft.  

SAGW: Es ist ziemlich genau drei Jahre her, dass die Taliban in Afghanistan an die Macht kamen. Waren Sie darauf vorbereitet, oder kam das völlig überraschend?

Najibah Zartosht: Im Februar 2020 unterzeichneten die USA in Katar mit den Taliban das Doha-Abkommen, das den Rückzug aller US-Truppen besiegelte. Ich und viele meiner Freunde dachten damals, dass die Taliban nun mit der Regierung verhandeln würden, dass sie eine politische Kraft und in Zukunft vielleicht Teil einer Koalitionsregierung würden. Niemals aber hätten wir gedacht, dass sie die Macht in Afghanistan vollständig übernehmen könnten. 

Die Taliban haben es offenbar verstanden, sich als potenzielle Verhandlungspartner zu präsentieren. 

Es gab in Afghanistan damals zwei Narrative. Das eine besagte, dass die Taliban von heute nicht mehr die Taliban der 1990er Jahre seien, dass sie insbesondere ihre Einstellung gegenüber Frauen geändert hätten. Dass sie Frauen Bildung zugestehen, sie arbeiten lassen würden. Dieses Narrativ wurde von den Taliban gepflegt, um das Vertrauen der Menschen zu gewinnen. Tief im Innern wussten ich und andere Intellektuelle aber: Das stimmte nicht, es war Propaganda. Wir stellten uns aktiv dagegen. Im Schulunterricht, in Lehrveranstaltungen, in Zeitungsartikeln und auf den Sozialen Medien argumentierten wir, dass sich an der Haltung der Taliban nichts geändert habe. Doch dass sie über Nacht alles an sich reissen würden, hätten wir in unseren schlimmsten Träumen nicht für möglich gehalten. 

Können Sie sich an den 15. August 2021 erinnern, als die Taliban in Kabul einmarschierten?

Ich unterrichtete an der Rabia-Balkhi-Universität in Kabul, als ich im Flur Stimmen hörte und Menschen, die die Treppe hinunterrannten. Ich öffnete die Tür und sah meine Kolleginnen und Kollegen panisch das Gebäude verlassen. Als ich sie fragte, was los sei, antworteten sie: Die Taliban sind in Kabul. Ich stand wie angewurzelt, ich wusste im ersten Moment nicht, was zu tun ist. Dann ging ich zurück ins Klassenzimmer und sagte meinen Studentinnen und Studenten, sie sollen ihre Sachen packen und nach Hause gehen. Auch ich verliess das Gebäude. Die Strassen waren voll von Menschen, die nach Hause eilten – Frauen, Männer, Kinder. Die Ladenbesitzer schlossen ihre Läden. Das Verkehrssystem kam zum Erliegen. Es fuhren keine Busse mehr, keine Autos, alle waren zu Fuss unterwegs. Irgendwann bin auch ich zuhause angekommen. 

Ich öffnete die Tür und sah meine Kolleginnen und Kollegen panisch das Gebäude verlassen. Als ich sie fragte, was los sei, antworteten sie: Die Taliban sind in Kabul. 

Sie waren als kritische Journalistin besonders exponiert. Wann beschlossen Sie, Afghanistan zu verlassen? 

Als ich damals nach Hause kam, hatten alle Panik. Ich wohnte mit meiner Schwester zusammen, sie arbeitete für die Regierung. Auch die anderen Frauen und Mädchen im Haus nahmen aktiv am öffentlichen Leben teil, Bildung und Arbeit waren für sie essenziell, und sie wussten, dass nun alles auf dem Spiel stand. Wir mussten uns schnell organisieren. Ich, mein Mann und ein paar unserer Freunde organisierten ein Treffen, und bei diesem Treffen entschieden wir, Afghanistan so bald wie möglich zu verlassen. Wir hatten keine Visa für Pakistan, aber wir fanden einen Schmuggler mit Beziehungen zu Grenzbeamten. Wir bezahlten ihm viel Geld, und am 17. August schafften wir es über die Grenze. 

Sie liessen alles hinter sich: Freunde, Familie, einen Lebenszusammenhang. 

Es ist schwer, meine damaligen Gefühle zu beschreiben. Die Flucht war sehr hektisch. Aber in Pakistan hatte ich auf einmal Zeit, zurückzuschauen und über meine Zukunft nachzudenken. Ich realisierte, dass alles, wofür ich gearbeitet hatte, mein Studium in Indien, mein Abschluss in Wirtschaftswissenschaften, meine Stelle an der Universität, mein ganzes Leben, diese vergangenen 31 Jahre, vorbei und verloren waren. Ich fühlte mich elend und unglücklich. Und ich war wütend – auf die Taliban und auf alle, die das geschehen liessen. Dann setzte ich mich hin und begann aufzuschreiben, was ich empfand. Was ich als Frau verlor, als Vertreterin einer jüngeren Generation, die aktiv am öffentlichen Leben teilgenommen hatte. 

Dann setzte ich mich hin und begann aufzuschreiben, was ich empfand. Was ich als Frau verlor, als Vertreterin einer jüngeren Generation, die aktiv am öffentlichen Leben teilgenommen hatte. 

Sie fanden Ihre Stimme. 

Ich weinte, und ich schrieb. Und dann dachte ich: Sollten nicht auch andere die Möglichkeit haben, über ihre Erfahrungen zu schreiben und das Erlebte in Worte zu fassen? Zahlreiche Frauen erfuhren dasselbe Schicksal, eine ganze Generation fühlte ähnlich. Wo sollten sie hin mit ihrem Leid? Wer hörte ihnen zu? Wir waren damals eine Gruppe von Freunden in Pakistan, und wir begannen über eine mögliche Publikationsplattform zu diskutieren. Zuerst war die Idee eine Art Blog, auf dem die Frauen ihre Geschichten erzählen konnten. Doch ein Blog schien zu klein. Eine meiner Freundinnen schlug vor, eine Website zu erstellen. So entstand die Idee eines Online-Magazins. 

Sie sind heute Chefredaktorin von Afghanistan Women's Voice. Im Magazin liest man persönliche Berichte von Frauen, Nachrichten über Ereignisse in Afghanistan, Analysen und Hintergrundartikel zur Menschenrechtslage. Woher kam das verlegerische und journalistische Know-how? 

Ich und mein Mann lehrten in Afghanistan beide an der Universität und waren daneben journalistisch tätig. Und wir haben ein Netzwerk von Freunden mit Beziehungen zu Medien – Intellektuelle, Wissenschaftlerinnen, Autorinnen, Journalisten. Mit ihnen zusammen entwickelten wir das Magazin, wir sind ein Team. 

Sie beschlossen dann, nicht in Pakistan zu bleiben...

Die Situation in Pakistan war nicht einfach. Wir waren illegal im Land, wir konnten nicht arbeiten, wir konnten das Haus kaum verlassen. Jeder Einkauf war gefährlich, man konnte uns jederzeit festnehmen und nach Afghanistan abschieben. Mein Mann kannte jemanden, der mit Hilfe des Deutschschweizer Pen-Zentrums in die Schweiz gekommen war, und diese Leute halfen auch uns schliesslich bei der Flucht. 

Mitglieder eines Autorenverbands halfen ihnen also, an einen sicheren Ort zu gelangen –nicht offizielle Stellen?

Genau, es war eine private Initiative. Das Pen-Zentrum hatte diese berühmte Liste. Sie hinterlegten Sicherheiten für Menschen, die aufgrund ihrer intellektuellen Arbeit bedroht waren, und ermöglichten es einer Anzahl Leute, in die Schweiz zu kommen. Heute sind unsere Freunde über die Welt verstreut: in Pakistan, Deutschland, Frankreich, Iran – viele auch noch in Afghanistan, wo sie auf ein humanitäres Visum für Deutschland hoffen. 

Eine Flucht zerschneidet das eigene Leben in ein Vorher und Nachher. Woher nahmen Sie die Kraft für die journalistische und verlegerische Arbeit? 

Ich und das ganze Team hinter dem Magazin, wir teilen die gleichen Werte. Wir wollten etwas tun. Wir haben keine politische Macht, wir können auch nicht nach Afghanistan gehen und dort direkt gegen die Taliban kämpfen. Die einzige Macht, die wir haben, ist die Macht zu sprechen und zu schreiben. Wir können unsere Erfahrung mit dem Ungerechtigkeitsregime publik machen und es auch anderen, insbesondere Frauen, ermöglichen, über ihre Erfahrungen zu schreiben. 

Die einzige Macht, die wir haben, ist die Macht zu sprechen und zu schreiben.

Es schreiben Autorinnen für Afghanistan Women's Voice, die nach wie vor in Afghanistan sind. Wie gefährlich ist das für sie?  

Sie arbeiten unter hohem Druck und in ständiger Angst, von den Taliban festgenommen zu werden. Aber sie nehmen das Risiko auf sich. Und wir treffen natürlich Vorsichtsmassnahmen. Keine dieser Frauen publiziert unter ihrem richtigen Namen. Wir kennen ihn, aber wir würden ihn niemals und gegenüber niemandem nennen, auch nicht gegenüber Medien. Wir bitten die Frauen, uns ihre Beiträge nicht auf die offizielle E-Mail-Adresse des Magazins zu schicken, sondern an eine andere E-Mail-Adresse, mit einem Fake-Namen. Dort nehmen wir den Artikel entgegen, redigieren ihn und schicken ihn dann unsererseits anonymisiert an eine der zwei Personen in Indien und Pakistan, die für das Content-Management der Website zuständig sind. 

Nur wenige Beiträge sind auf Englisch zugänglich. Das Magazin erscheint hauptsächlich auf Persisch – neben Paschtunisch Amtssprache in Afghanistan. 

Wir hatten zuerst eine persische und eine englische Seite. Beide Sprachen zu bedienen, war aber sehr kostspielig. Wir haben keinen Verlag und keine Organisation im Hintergrund, wir bezahlen die technische Infrastruktur selbst und arbeiten alle ehrenamtlich. Einzig die Autorinnen in Pakistan und Afghanistan erhalten ein kleines Honorar – wir sind gerade daran, zu lernen, wie wir mit Spenden und Stiftungsgeldern ein Honorarbudget alimentieren können. Die Beiträge auf der Seite sollen frei zugänglich bleiben, dort generieren wir keine Einnahmen. Kurz: Wir mussten entscheiden, auf welches Zielpublikum wir den Fokus legen. Und das sind in erster Linie Afghaninnen und Afghanen. 

Die Beiträge werden auch auf Facebook geteilt. Sind die Sozialen Medien nicht von den Taliban kontrolliert? 

Bis jetzt haben die Taliban den Zugang zu Sozialen Medien und zum Internet nicht eingeschränkt, Informationen können also zirkulieren, sofern man sich einen Internetzugang leisten kann. Und Facebook ist in Afghanistan sehr beliebt! Wir haben dort rund 13'000 Follower. Es gibt Themen, die viral gehen. Besonders persönliche Erfahrungsberichte bekommen viel Aufmerksamkeit. Aber auch News, zum Beispiel wenn wir darüber berichten, dass die Taliban den Frauen verboten haben, sich in öffentlichen Pärken aufzuhalten oder in der Öffentlichkeit zu sprechen. Oder wenn die Taliban wieder jemanden öffentlich ausgepeitscht haben – auf solche Beiträge gibt es sehr viele Reaktionen. 

Die Menschenrechtssituation in Afghanistan ist desaströs. Am schlimmsten ist es für die Frauen, die komplett aus dem öffentlichen Leben verbannt wurden. Viele haben Schlafstörungen und Depressionen. Ist das Magazin da eine Hilfe?

Die eigene Geschichte öffentlich erzählen zu können, ist entlastend. Es ändert nichts daran, dass sich die Frauen nicht mehr allein bewegen dürfen, sich nicht zeigen, nicht arbeiten, dass sie keine Rechte und keine Stimme mehr haben. Aber wenn man seine Wut und seine Ängste teilen kann und sieht, dass andere ähnlich fühlen, hilft einem das. Geschehenes in Worte zu fassen, ist eine Form von Selbstermächtigung. Indem wir die Geschichten dieser Frauen erzählen, geben wir ihnen eine neue Rolle: Sie werden von Opfern zu Protestierenden, zu Ungehorsamen. Und schliesslich geht es uns auch einfach darum, publik zu machen, was in Afghanistan passiert. Es gab dort zahlreiche feministische Bewegungen. Die Taliban nehmen diese Frauen fest, bringen sie in Gefängnis, vergewaltigen sie. Wir berichten darüber und wirken damit auf die öffentliche Meinung ein. Es sind längst nicht alle in Afghanistan Anhänger der Taliban. Die Leute hassen sie. Wir können mit unseren Beiträgen den Hass-Level erhöhen. 

Wenn man seine Wut und seine Ängste teilen kann und sieht, dass andere ähnlich fühlen, hilft einem das. Geschehenes in Worte zu fassen, ist eine Form von Selbstermächtigung.

Was wäre Ihr Wunsch für die Zukunft? 

Ich wünsche mir, dass Afghanistan eines Tages von den Taliban befreit sein wird. Dass Frauen zur Schule und an die Universität gehen können, dass sie einen Beruf lernen und ausser Haus arbeiten können. Aber das wird in naher Zukunft nicht geschehen. Und wer soll das Land wieder aufbauen, wenn es je so weit sein sollte? Eine ganze Generation gebildeter Menschen hat Afghanistan verlassen. Die wertvollste Ressource, der Motor für Entwicklung eines Landes, ist im Exil. Unterdessen ändern die Taliban die Curricula an den Schulen und Universitäten. Sie gründen überall religiöse Schulen, sogenannte Madrasas. Die nächste Generation wird eine Generation islamischer Fundamentalisten sein, die Taliban werden den Kindern ihre Ideologie injiziert haben. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf. Wir erheben weiterhin unsere Stimme. Ich möchte irgendwann in mein Land zurückkehren können. 

Über Najibah Zartosht

Najibah Zartosht ist Autorin und Chefredaktorin der Zeitschrift Afghanistan Women's Voice. Zuvor lehrte sie Wirtschaftswissenschaften an der Rabia Balkhi Universität in Kabul und war neben ihrer Forschungstätigkeit als Journalistin tätig. Sie studierte Wirtschaftswissenschaften, Marketing und Psychologie an der Universität von Bangalore in Indien. Was sie über viele Jahre aufgebaut und erreicht hatte, brach am 15. August 2021, nach dem Einmarsch der Taliban in die afghanische Hauptstadt, plötzlich zusammen. Najibah Zartosht verlor ihre Redefreiheit und ihren Arbeitsplatz. Da sie bedroht wurde, floh sie aus ihrem Land. Heute lebt sie in Zug mit ihrem Mann und ihrem in der Schweiz geborenen Sohn.