Von Noureddine Wenger
Im Jahr 2021 feierte die marokkanische Zeitschrift Hespéris-Tamuda ihr hundertjähriges Jubiläum. Gegründet wurde sie 1921 von den französischegn Protektoratsbehörden unter dem Namen «Hespéris»: eine griechische Bezeichnung für «Marokko». Nach der Unabhängigkeit des Landes 1956 wurde sie mit «Tamuda», einer ähnlichen, unter dem spanischen Protektorat gegründeten Zeitschrift, zusammengelegt.
Damit verkörpert die akademische Zeitschrift, die aus einer multidisziplinären Perspektive über Geschichte, Kultur und Gesellschaft Marokkos und des Mittelmeerraums berichtet, wie kaum eine andere Einrichtung im Land die Geschichte der sozialwissenschaftlichen Wissensproduktion in Marokko. Diese geht – wie die der Zeitschrift – in direkter Weise auf die Kolonialgeschichte des Landes zurück. Nach der Unabhängigkeit spiegelt sich in ihren Beiträgen die Entwicklung der Debatten darüber, wie die Sozialwissenschaften mit diesem Erbe umgehen sollen. Bis heute bildet die Zeitschrift das breite Spektrum an wissenschaftlichen Herangehensweisen ab, die die marokkanischen Sozialwissenschaften charakterisieren.
Die Frage, wie die Sozialwissenschaften sich von ihrem kolonialen Erbe emanzipieren können, ist bis heute ein wichtiger Bestandteil der wissenschaftlichen Debatten im Land. Welche Verbindungen hatten Sozialwissenschaftler:innen zum Herrschaftsapparat? Mit welchen Absichten wurde Wissen produziert? Und wie hat sich all das auf das Selbstbild und die Debatten über die marokkanischen Sozialwissenschaften in der postkolonialen Zeit ausgewirkt?
Am Beispiel der Soziologie lässt sich aufzeigen, wie tiefgreifend die Verflechtungen der sozialwissenschaftlichen Wissensproduktion mit dem kolonialen Machtapparat in Marokko waren. Anders als etwa in Ägypten, wo europäische und lokale Akteur:innen ab Mitte des 19. Jahrhunderts gemeinsam die Sozialwissenschaften zu entwickeln begannen, operierten sie in Marokko bis zur Unabhängigkeit weitgehend unter Ausschluss der lokalen Bevölkerung.
Dennoch äusserten sich marokkanische Soziolog:innen nach der Kolonialzeit meist relativ gemässigt über die intellektuellen Errungenschaften dieser kolonialen Wissenschaftspraktiken. In Marokko gab es keine radikale Abkehr vom intellektuellen Erbe der Kolonialzeit, wie dies etwa im Nachbarland Algerien stärker der Fall war, keine kategorische Zurückweisung des Wissens, das während dieser Zeit hervorgebracht wurde.
Stattdessen prägte ein kritischer und von Ambivalenzen begleiteter Annäherungsprozess die postkolonialen Debatten über die «Dekolonisierung» der Soziologie. Eine wichtige Rolle spielte dabei das Narrativ, an dem sich viele Marokkaner:innen bis heute in ihrem Selbstbild orientieren: Marokko als ein Land am Knotenpunkt zwischen Afrika und Europa, zwischen Orient und Okzident, das sich dank seiner jahrtausendealten Geschichte zu einem Ort kultureller Offenheit und gesellschaftlicher Pluralität entwickelt hat. Um das Zusammenspiel von kolonialem Erbe und postkolonialen Selbstbildern in der Soziologie in Marokko nachzuvollziehen, lohnt sich ein Blick zurück zu ihren Anfängen.
«Sociologie musulmane» als «sociologie coloniale»? Die Anfänge der Soziologie in Marokko
Die Geschichte der Soziologie in Marokko geht auf das Jahr 1904 zurück. In jenem Jahr gründete der Franzose Alfred Le Chatelier in der Hafenstadt Tanger die «Mission Scientifique». Die Organisation verfolgte das Ziel, «vor Ort nach Materialien zu suchen, die es ermöglichen, Marokko zu studieren und seine Organisation und sein Leben zu rekonstruieren.» So schrieb es später der Orientalist Édouard Michaux-Bellaire, der ab 1907 deren Vorsitz übernahm. Es ging darum, einen «Katalog» Marokkos zu erstellen: eine Art soziologische Bestandsaufnahme der verschiedenen «Stämme, Städte, Bruderschaften», ihrer «Ursprünge, Verzweigungen, Kämpfe und Allianzen».
Doch die geplante soziologische Vermessung der marokkanischen Gesellschaft war nicht allein der wissenschaftlichen Neugier geschuldet. Es ging darum, «so weit als möglich das Terrain erkennbar zu machen, auf dem wir vielleicht eines Tages tätig werden könnten». Schon damals zeichnete sich ab, dass die französische Regierung versuchen könnte, das Gebiet Marokkos zu erobern. Diese Eingebung Michaux-Bellaires sollte sich bald bestätigen.
1907 besetzten französische Truppen die Grenzstadt Oujda im Osten des Landes und bombardierten die Stadt Casablanca an der Atlantikküste im Westen. Ende März 1912 sah sich der marokkanische Sultan Abd al-Hafiz schliesslich zur Kapitulation gezwungen und musste seine Macht an ein «französisches Protektorat in Marokko» abtreten. Die vollständige Kontrolle über das Land gewannen die französischen Truppen jedoch erst zwei Jahrzehnte später.
Die «Mission Scientifique» wurde nach der Errichtung des Protektorats bald in dessen Strukturen integriert. In der Hauptstadt Rabat erliess Hubert Lyautey, Generalresident und oberster Vertreter der französischen Regierung, 1920 zudem die Gründung des «Institut des Hautes Études Marocaines» (I.H.E.M.). Das I.H.E.M. sollte die von der «Mission Scientifique» begonnene Wissensakkumulation über die marokkanische Gesellschaft weiter ausbauen und gezielt koordinieren. Um die Resultate dieser Forschung zu «zentralisieren», gründete das I.H.E.M 1921 die eingangs erwähnte Zeitschrift Hespéris.
Das I.H.E.M war zentral für die weitere Entwicklung dieser «sociologie musulmane». Als ein von oberster Stelle getragenes Forschungsinstitut mit eigenständigem Periodikum wurde es bald zu einem Dreh- und Angelpunkt der Sozialwissenschaften in Marokko. Es diente auch als «Schule» für Kolonialbeamte mit Interesse an der marokkanischen Gesellschaft und wurde so zu einem der wichtigsten intellektuellen Zentren der Protektoratszeit.
Diese Beispiele zeigen, wie sozialwissenschaftliche Wissensproduktion und koloniale Herrschaftspraxis von Beginn an Hand in Hand gingen. Die «Mission Scientifique» etwa diente als Informationszentrum über die marokkanische Gesellschaft und damit als «das intellektuelle Expertengremium der politischen Abteilung des Büros für einheimische Angelegenheiten», wie der amerikanische Historiker Edmund Burke schreibt.
Die Gründung der «Mission Scientifique» 1904 korrelierte zudem mit einer Aufwertung der Soziologie unter französischen Entscheidungsträgern: «Praktische Kenntnisse der sozialen und politischen Institutionen zählten in den Augen der politischen Entscheidungsträger mehr als philologische Gelehrsamkeit», sagt Burke. «Nur ein wissenschaftlich fundierter Imperialismus, so wurde behauptet, habe das Potenzial, Franzosen das Leben zu retten und grosse Kosten zu vermeiden.»
Die «Sociologie Musulmane» ist in der Forschungsliteratur daher häufig als Musterbeispiel einer «Kolonialwissenschaft» beschrieben worden. Sie müsse, wie der marokkanische Soziologe Mohamed Madoui schreibt, zuerst in ihrer aktiven Rolle in jener Zeit verstanden werden: als «wissenschaftliche Rahmung der kolonialen Expansion».
Im arabischen Maghreb habe die französische Soziologie «ohne jeden Zweifel als Instrument der Eroberung, zunächst zur ‘Befriedung’ und später zur ‘Beherrschung’» der lokalen Gesellschaften gedient, hält der tunesische Soziologe Abid Elbaki Hermassi fest. Sie sei, so die nochmals stärker akzentuierte Formulierung von Florian Zemmin, «dezidiert und ausschließlich zur kolonialen Machtausübung eingeführt [worden]».
Der Weg in die Unabhängigkeit: Der Aufbau der postkolonialen Soziologie inmitten einer polarisierten Gesellschaft
Am 16. November 1955 versetzte die Landung einer Maschine am Flughafen der Hauptstadt Rabat ganz Marokko in Bewegung. An Bord waren König Mohammed V und seine Familie, der zwei Jahre zuvor von den französischen Machthabern ins Exil versetzt worden war. Ihre spektakuläre Rückkehr kündigte das lange erwartete Ende des französischen Protektorats in Marokko an.
Die Unabhängigkeit war das Resultat eines strategischen Bündnisses zwischen den Kräften um König Mohammed V, der sich in den Jahren vor der Unabhängigkeit an die Spitze der nationalen Befreiungsbewegung zu stellen vermochte, und der Istiqlal-Partei, der eigentlichen Architektin der Unabhängigkeitsbewegung. Nach der Unabhängigkeit wurde die Allianz jedoch zusehends instabil.
Vor allem der von Mehdi Ben Barka angeführte linke Flügel der Istiqlal-Partei geriet immer stärker in Konflikt mit der Monarchie. Vor der Unabhängigkeit hatte Ben Barka entschieden auf einen «nationalrevolutionäre[n], antiimperialistische[n], bewaffnete[n] Kampf» gegen das französische Kolonialregime hingearbeitet. Er hatte wenig Vertrauen in das von Frankreich in Aussicht gestellte und von Mohammed V verhandelte Unabhängigkeitsabkommen. Am Ende stimmte er ihm aus pragmatischen Gründen zu. Später habe er dies jedoch als «unverzeihlichsten Fehler» seiner Bewegung erachtet, wie der deutsch-syrische Politikwissenschaftler Bassam Tibi schreibt. «Es war ein kluger Schachzug des Kolonialsystems, die Unabhängigkeit – als scheinbare Kapitulation – anzubieten.»
Um dieser «Scheinunabhängigkeit» zu entkommen, sah Ben Barka die umfassende «revolutionäre sozialistische Transformation der Gesellschaft» als einzig gangbaren Weg. Im Wissen um ihre politischen Ziele ging die Regierung schnell und heftig gegen die sozialistische Linke vor. Die Repression gipfelte im Oktober 1965 in der Entführung und Ermordung Mehdi Ben Barkas im Pariser Exil.
Die Auseinandersetzungen zwischen der wiedereingesetzten Monarchie und der sozialistischen Opposition bildeten den politischen Kontext für die sozialwissenschaftlichen Debatten, die sich im Übergang in die postkoloniale Zeit entwickelten. Institutionell und personell war die Entwicklung zunächst von Kontinuitäten geprägt. So arbeiteten viele Hochschulen und wissenschaftliche Institutionen in dieser Übergangszeit eng zusammen mit progressiven, der Dekolonisierung zugewandten Franzosen. König Mohammed V etwa beauftragte den französischen Historiker Charles-André Julien, die erste Fakultät für Geisteswissenschaften in Marokko zu eröffnen. Die «Faculté des lettres et des sciences humaines» wurde als Teil der 1957 gegründeten «Université Mohammed V de Rabat» ins Leben gerufen und ersetzte das I.H.E.M.
Neue Impulse für die Entwicklung der Soziologie im postkolonialen Marokko gingen jedoch vor allem vom «Institut de sociologie de Rabat» aus, das 1960 mit der Unterstützung der UNESCO gegründet wurde. Es widerspiegelte das Bestreben «der ersten Generation marokkanischer Soziologen, die Grundlagen für eine nationale Soziologie zu schaffen», wie die marokkanische Soziologin Khadija Zahi schreibt.
Eine zentrale Rolle bei der Lehre am Institut de sociologie de Rabat kam Mohamed Guessous zu. Nebst seiner Lehrtätigkeit machte Guessous vor allem durch sein politisches Engagement von sich reden. Er war ein ranghohes Mitglied der «Union Socialiste des Forces Populaires» (USFP), die der Oppositionelle Mehdi Ben Barka 1959 mitgegründet hatte. Sein Engagement ist bezeichnend für das wissenschaftliche Klima am neu gegründeten Institut in Rabat: Viele seiner Vertreter:innen sahen die Soziologie als Teil eines breiteren politischen Aktivismus, der tendentiell links und den sozialistischen Bewegungen nahe stand.
Der Soziologieunterricht am «Institut de sociologie», wie Hassan Rachik and Rahma Bourqia festhalten, wurde als Teil eines umfassenderen gesellschaftlichen Kampfes verstanden. Gleiches trifft auch auf Abdelkébir Khatibi zu, der 1966 zum Direktor des Instituts berufen wurde. Beeinflusst vom Marxismus und den sozialistischen Kämpfen seiner Zeit verstand Khatibi die Mission des Instituts in einer wissenschaftlich fundierten Sozialkritik, die ihre gesellschaftliche Rolle im direkten Dialog mit den sozialen Bewegungen fand.
Der Ansatz, Soziologie als engagierte und kritische Wissenschaft zu praktizieren, war unter anderem das Resultat der politischen und sozialen Realitäten im jungen postkolonialen Marokko der 1960er Jahre. In ihrem Anspruch, sozialen Wandel und gesellschaftliche Entwicklung voranzutreiben und zu begleiten, war diese erste Generation von marokkanischen Soziolog:innen gleichwohl auf die Zusammenarbeit mit dem postkolonialen Staat angewiesen – ungeachtet von ideologischen Differenzen.
Hinzu kam das vorbelastete Erbe der Soziologie in Marokko. Mehr als ein halbes Jahrhundert war die «sociologie musulmane» unter fast vollständigem Ausschluss der lokalen muslimischen Bevölkerung praktiziert worden. Die Entwicklung der Soziologie im postkolonialen Marokko vollzog sich vor dem Hintergrund der kolonialen Erfahrung. Eine der dringlichsten Fragen war jene nach dem Umgang mit dem umfangreichen Wissensfundus der «sociologie musulmane»: Sollte man ihn, in den Worten Mohamed Madouis, «integrieren, auf Distanz halten oder verwerfen»?
Postkoloniale Perspektiven auf die «sociologie musulmane»
Die ersten kritischen Arbeiten über das intellektuelle Erbe der «sociologie musulmane» finden sich bei Abdelkébir Khatibi. Da ist etwa sein Aufsatz mit dem Titel «Histoire et sociologie au Maroc. Note sur le problème de l'idéologie», der 1966 in der Zeitschrift Hespéris-Tamuda erschienen ist. Diese war ab 1960 von der «Faculté des lettres et des sciences humaines» der Mohammed V Universität in Rabat fortgeführt worden.
Khatibi entwickelt ein differenziertes Argument, das auf der einen Seite die koloniale Verflechtung und die «ideologischen Funktionen» der «sociologie musulmane» hervorhebt. Auf der anderen Seite sollte die Entwicklung der Soziologie aber auch nicht auf die imperiale Expansion reduziert werden, so Khatibi. Es wäre zu einfach, «die Sozialwissenschaften dieser Zeit pauschal zu verurteilen, [nur] weil sie die Töchter eines Unterdrückungssystems sind, das […] gescheitert ist.» Vielmehr müsse aufgezeigt werden, welche Elemente der «sociologie musulmane» zur «wissenschaftlichen Mystifizierung» der marokkanischen Gesellschaft beigetragen haben. Dies sei für den Aufbau einer «dekolonisierten nationalen Kultur» von besonderer Wichtigkeit: «[…]nationale Historiker [sollen] nicht länger in einem bestimmten Bild unserer Vergangenheit gefangen [sein], das von kolonialistisch oder rassistisch orientierten Wissenschaftlern wiedergegeben wird […].»
Die Verstrickungen zwischen kolonialer Herrschaftspraxis und soziologischer Wissensproduktion analysiert Khatibi ausführlicher in einem zweiten Aufsatz, der unter dem Titel «Bilan de la sociologie au Maroc» ein Jahr später erschienen ist. Auch hier ist Khatibi bemüht, ein differenziertes Bild zu zeichnen. Eine seiner Hauptaussagen ist, dass sich die einzelnen Soziolog:innen – unter ihnen auch einige Frauen – in ihrer faktischen Nähe zur Protektoratsmacht zuweilen stark unterschieden haben. Es gab die «offizielle» Soziologie, die durch enge Beziehungen zur Protektoratsmacht geprägt war. Dem gegenüber stellt Khatibi eine eher «akademische» Ausrichtung, die autonomer vom politischen Apparat agiert haben soll. Letztere Gruppe habe sich schon früh mit den Perspektiven der lokalen muslimischen Bevölkerung auseinandergesetzt und die «sozialen Kosten» der Kolonisierung untersucht.
Bemerkenswert ist, dass Khatibi sogar den Arbeiten von jenem Soziologen etwas abgewinnen konnte, den er als den exemplarischen Vertreter der «offiziellen», kolonialen Soziologie erachtete: den früheren Marineoffizier Robert Montagne. Montagne sei talentiert gewesen und seine umfangreichen, auf breitangelegten empirischen Untersuchungen basierenden Studien hätten wertvolle Einsichten über die marokkanische Gesellschaft zu Tage getragen.
Abdelkébir Khatibi weist in diesen frühen Schriften auf die Schattierungen, Zwischenräume und alternativen Pfade der «sociologie musulmane» hin. Damit entgeht er der Gefahr einer einseitigen Darstellung, wie sie zuweilen in der Forschungsliteratur ausgefallen ist. Vor allem aber helfen seine Beiträge, die Ambivalenz im Verhältnis zwischen gesellschaftlicher Wissensproduktion und politischen Machtverhältnissen besser zu verstehen. Diese umsichtige Auseinandersetzung war die Grundlage dessen, was Khatibi als «Dekolonisierung der Soziologie» in den folgenden Jahren genauer auszuformulieren begann.
Mit dem Erbe der Vergangenheit zu den Fragen der Zukunft: Die Dekolonisierung der Soziologie in Marokko
Abdelkébir Khatibi wurde am 11. Februar 1938 in der Küstenstadt El Jadida südlich von Casablanca geboren. Er besuchte zunächst eine Koranschule, bis sich im Alter von sieben Jahren die Gelegenheit ergab, an eine französische Schule zu wechseln – keine Selbstverständlichkeit zu dieser Zeit. Dort prägte ihn vor allem die Mehrsprachigkeit: «Ich wurde dreisprachig: Ich las Französisch, ohne es zu sprechen, spielte mit Fetzen des geschriebenen Arabisch und sprach meinen Alltagsdialekt.»
1958 zog er nach Paris für ein Soziologiestudium an der «Sorbonne Université». Über seinen aussergewöhnlichen Bildungsweg sagte Khatibi später: «Ich wurde akzeptiert, weil ich ähnlich war, da ich meine gesamte Kindheit und Kultur im Voraus vernichtet hatte. [...] Ich lehrte anderen das Schreiben ihrer eigenen Sprache.»
Khatibi war ausserordentlich gewandt mit den intellektuellen Traditionen Frankreichs. Und bald begann er, sich diese für die Neuentdeckung der lokalen Traditionen Nordafrikas zu Nutze zu machen. So bestand seine Doktorarbeit aus einer frühen soziologischen Studie zum nordafrikanischen Roman seit 1945.
Er sah in der Soziologie die Möglichkeit, die kolonialen Fremdbilder der «sociologie musulmane» zu dekonstruieren und diesen ein neues, nationales und emanzipatives Narrativ gegenüberzustellen. Ihm ging es darum, «die Volkskultur, sofern sie nicht verschwunden ist, zu rehabilitieren [und] ihr ihre theoretische Würde zurückzugeben».
1966 kehrte er nach Marokko zurück und übernahm den Vorsitz des Instituts für Soziologie in Rabat. Hier begann er, diese neue Art der Soziologie in einer Reihe von Studien umzusetzen. 1966 publizierte er einen Artikel zur «Wahrnehmung und Funktion von Meinungsumfragen»: anhand seiner eigenen Erfahrungen in Marokko reflektiert er über die Schwierigkeiten, die in postkolonialen Gesellschaften mit der Anwendung von sozialwissenschaftlichen Methoden wie etwa dem Fragebogen einhergehen. Ist das Bild der Soziologie in der Öffentlichkeit ein negatives, so liessen sich mit diesen Methoden nur schwierig verlässliche Daten erheben, so Khatibi. Diese negative, auf die Kolonialzeit zurückgehende Haltung gegenüber den Sozialwissenschaften hallt in der arabischen Welt bis heute nach.
Die sich entwickelnden arabischen Sozialwissenschaften stiessen nicht nur in der breiteren Gesellschaft auf Skepsis. Sie gerieten auch immer wieder in Konflikt mit dem Staat. 1970 liess König Hassan II das Institut de sociologie in Rabat schliessen, wegen seines marxistisch geprägten, sozialkritischen Klimas und der wachsenden Politisierung der Studierenden. Darauf folgte eine Phase der Marginalisierung der universitären Soziologie in Marokko. Sie verfügte über keine eigenen Departemente und Studiengänge mehr, bis sie ab den späten 1980er Jahren schrittweise rehabilitiert wurde.
Abdelkébir Khatibi kommentierte diese Entwicklung 1973 in einem Interview mit den Worten: «[…] der Soziologe muss kontinuierlich Kritik ausüben […], doch gibt es nur wenige Staaten, die gerne eine grosse Portion Kritik einstecken». Soziologie sei, so Khatibi weiter, «immer in den sozialen Kampf verwickelt, ob sie es will oder nicht.»
Vor dem Hintergrund der intellektuellen und politischen Erfahrungen, die Khatibi in den knapp 10 Jahren seit seiner Rückkehr nach Marokko gemacht hat, brachte er ab 1975 seine Vorstellungen über die Dekolonisierung der arabischen Soziologie auf eine neue Formel. Sie sollte im Rahmen einer «doppelten Kritik» erfolgen, die sich sowohl gegen den «ideologischen Ethnozentrismus» der westlichen Soziologie wende als auch gegen die überkommenen Denkstrukturen der eigenen Traditionen.
Seine Ausführungen münden 1983 in die Essaysammlung «Maghreb pluriel». Die Maghreb-Region wird in diesem konzeptuellen Schlüsselwerk nun ganz programmatisch als Ort von ausgeprägter «(linguistischer, kultureller und politischer) Pluralität» verstanden. Als privilegierter Schauplatz einer «doppelten Kritik» vereint der «plurale Maghreb» dabei gewissermassen die Bedingungen für die Entstehung einer neuen, «anderen» Art des Denkens.
Khatibi bezeichnet dieses Denken als «pensée autre» und meint damit eine Denkkultur, die in den Worten von Jane Hiddleston and Khalid Lyamlahy «dem ethnischen, religiösen und kulturellen Determinismus entgegen[wirkt] und anderen Kulturen im Geiste der Offenheit und Grosszügigkeit [begegnet].» «Pensée autre» steht in diesem Sinne für plurales, freiheitliches, antiautoritäres und dekoloniales Denken und sieht in den sozialen Phänomenen der Mehrsprachigkeit und der Transkulturalität die essenziellen Ressourcen für eine weitreichende Transformation der Gesellschaft.
Das Bild Marokkos als ein «Land zwischen den Kontinenten», auf dem sich seit Jahrtausenden eine unüberschaubare Vielfalt von Ethnien, Sprachen, Religionen und Kulturen begegnen und das schon immer von einem hohen Mass an kultureller Diversität geprägt war, ist in Marokko bis heute präsent. Marokko sei, wie König Hassan II es einmal formuliert haben soll, «ein Baum, dessen Wurzeln in Afrika liegen und der durch seine Blätter in Europa atmet.»
In einer Hommage auf die Zeitschrift «Hespéris-Tamuda» anlässlich des fünfzigjährigen Jubiläums der «Faculté des Lettres et des Sciences Humaines de Rabat» im Jahre 2007 greift der marokkanische Historiker Brahim Boutaleb diesen Ausspruch auf. Die interdisziplinären, von einer internationalen Autorenschaft produzierten Beiträge der Zeitschrift Hespéris-Tamuda verkörperten in exemplarischer Weise die Bestandteile jenes Baumes mit seinen «afrikanischen Wurzeln, der seit der Antike bestehenden Verbindung mit der europäischen Küste sowie den Verbindungen zum Osten, vor und nach dem Islam».
Wie das Land selbst mussten Boutaleb zufolge auch die marokkanischen Sozialwissenschaftler:innen seiner Generation ein «doppeltes Erbe» antreten: «Wir haben eine historische Schule geerbt, die sowohl in der andalusischen Kultur als auch in der marokkanischen Tradition verwurzelt ist. [...]. Aber wir sind auch dankbare Schüler unserer französischen und spanischen Meister, die uns in moderner Methodik geschult haben und uns das enorme wissenschaftliche Kapital, das ihnen gehört [...], nahegebracht haben.» Vor dem Hintergrund der historischen Tiefe der marokkanischen Erfahrung sei jedoch die «koloniale Phase», wie Boutaleb abschliessend betont, «alles in allem» nicht mehr gewesen als «eine Art Sturm, so heftig wie flüchtig, der uns einen Neuanfang in der Geschichte ermöglichte.»
Noureddine Wenger ist Assistent am Europainstitut der Universität Basel. Im Rahmen seiner Doktorarbeit beschäftigt er sich mit der Wahrnehmung Europas in der arabischen Welt und den unterschiedlichen intellektuellen und politischen Positionen, die seit Beginn der Kolonialzeit gegenüber Europa eingenommen wurden. Seine Forschung fragt dabei nach der gesellschaftlichen Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern, der globalen Zirkulation von Ideen und Wissen sowie nach dem Verhältnis von globalen politischen Debatten und politischem Aktivismus.
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