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Das Bild von der Verfallsphase des Lebens hält sich hartnäckig

Autorin: Sabina Misoch (Ostschweizer Fachhochschule) | Redaktion: Stella Noack (SAGW)

Altern ist keine Krankheit. Die Menschen bleiben immer länger gesund und sind aktiver Teil der Gesellschaft. Wir brauchen eine Alterspolitik, die das Alter nicht nur als Phase der Polymorbidität begreift.

Ab dem Zeitpunkt der Geburt altern komplexe Lebewesen wie der Mensch jeden Tag. Denn das Altern ist ein natürlicher biologischer Prozess der Zellen, der sich permanent vollzieht. Dieser Prozess ist irreversibel und trotz der biologischen Grundlagen ist er in seinem Verlauf sowohl inter- als auch intra-individuell betrachtet sehr unterschiedlich.

Wir werden älter und bleiben länger gesund

Das Altern und das Altwerden sind somit Teil des natürlichen Verlaufs eines menschlichen Lebens und damit keine Krankheit; das Altern sollte keinesfalls automatisch mit Beeinträchtigung oder Krankheit gleichgesetzt werden. Denn in den neueren Daten zu Altern und Gesundheitszustand des Bundesamts für Statistik (BfS) zeigt sich, dass der Gewinn an Lebensjahren weitgehend ein Gewinn an gesunden Lebensjahren ist. Die Lebenserwartung in der Schweiz liegt aktuell bei 81,6 Jahren (2021, Männer) respektive bei 85,7 Jahren (2021, Frauen), wobei die dazugewonnenen Lebensjahre sich vornehmlich durch Freiheit von Krankheit und gesundheitlichen Einschränkungen auszeichnen. Die Menschen in der Schweiz leben nicht nur immer länger, sie altern auch in einem immer besseren Gesundheitszustand.

Dennoch dominieren defizitorientierte Altersbilder

Vor dem Hintergrund dieses Trends mutet es überraschend an, dass (auch bei den politischen Entscheidungsträger·innen) immer noch defizitorientierte Altersbilder1 die Diskussion dominieren. Die bei uns vorherrschenden Altersbilder stammen aus Zeiten, in denen die Lebenserwartung, insbesondere die Lebenserwartung bei guter Gesundheit, nicht so hoch war. Selbst in der Wissenschaft herrschten noch in den 1960er-Jahren defizitorientierte Bilder des Alterns vor. Diese postulierten, dass ältere Menschen zwangsläufig körperlich gebrechlich seien, kognitive Einschränkungen hätten oder bekämen, unproduktiv und unselbständig und entsprechend von der Hilfe anderer abhängig seien. Die Disengagement-Theorie argumentierte beispielsweise, dass diese Akkumulation von körperlichen, psychischen, sozialen und kognitiven Verlusten dazu führten, dass älter werdende Menschen sich zunehmend aus dem Leben zurückziehen (müssen) und dass dieser Rückzug aus sozialen Rollen und Aktivitäten ein natürlicher Prozess und ein natürliches Kennzeichen des Alterungsprozesses sei. Negative Altersbilder können in einer Gesellschaft Ursache für eine Altersdiskriminierung sein, indem ältere Menschen per se als schwach, inkompetent oder hilfsbedürftig angesehen werden. Auch soziale Auswirkungen sind vorstellbar. Sie haben zur Folge, dass sich Senior·innen auf Grund ihres Alters stigmatisiert fühlen und sich sozial zurückziehen.

Zeitgemässe Altersbilder fördern aktive Teilhabe

Es ist deshalb wichtig, dass wir die noch in den Köpfen verankerten Altersbilder adäquat zu realistischen und zeitgemässen Altersbildern weiterentwickeln. Ältere Menschen sind, wie wir aus den Datenerhebungen des BfS lernen, weder passiv, noch körperlich krank oder unterstützungsbedürftig. Die meisten Senior·innen sind lange Zeit nach ihrer Pensionierung gesund, aktiv und stehen mitten im Leben. Um diesem Wandel gerecht zu werden, hat auch die World Health Organization WHO seit 2021 das «aktive Altern» (Active Ageing) ins Zentrum ihrer Aktivitäten für die alternden Gesellschaften weltweit gestellt. «Aktives Altern» fordert, dass Politiken die aktive Teilhabe älterer Menschen an der Gesellschaft fördern, um ihnen ein erfülltes, gesundes und zufriedenes Leben zu ermöglichen.

Alterspolitiken müssen der Multidimensionalität des Alterns gerecht werden

Das Ziel von gegenwärtigen Alterspolitiken sollte demnach sein, diese an einem realistischen Altersbild zu orientieren. Dazu gehört es, ältere Menschen mit ihren Stärken und Schwächen in ihrer Heterogenität zu würdigen und damit das gesamte Leben aus einer Perspektive zu betrachten, die es als kontinuierlichen Prozess der Entwicklung über die gesamte Lebensspanne hinweg versteht. Das Altern sollte nicht nur als ein biologischer Vorgang angesehen werden, sondern vor allem in seiner Multidimensionalität, als psychischer, sozialer, kognitiver oder auch spiritueller Prozess, und als Teil der menschlichen Weiterentwickelung im Lebenslauf anerkannt und wertgeschätzt werden. Dies macht eine Alterspolitik notwendig, die das Ziel verfolgt, die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für einen guten Umgang mit dem Alter(n) in diesem Sinne zu schaffen. Eine solche Alterspolitik unterstützt und fördert die Prävention, gute Gesundheitsversorgung, lebenslanges Lernen, soziale Integration und aktive Teilhabe von Senior·innen am gesellschaftlichen Leben. Exemplarisch wären hier Massnahmen zu nennen, die einen Arbeitsmarkt für ältere Menschen durch flexible Arbeitszeiten und altersgerechte Arbeitsbedingungen unterstützen oder Politiken, die soziale Aktivitäten und die Integration älterer Menschen in die Gemeinschaft beziehungsweise Gesellschaft fördern.

«Active Ageing» meint daher nicht nur das individuelle, aktive Gestalten dieser Lebensphase, sondern bedeutet auch, dass die Politik auf allen Ebenen hierfür sensibilisiert wird und Strukturen entwickeln werden, die das aktive Altern zu unterstützen vermögen. Nur so kommen wir letztendlich zu einem neuen Bild des Alter(n)s, das diese Lebensphase als positive, gestaltbare, aktive und glückliche Lebensphase zu begreifen vermag.

Fussnoten

[1] Unter Altersbildern versteht man die Vorstellungen und Einstellungen, die in einer Gesellschaft über das Alter und das Altern vorherrschen und die einerseits einen nachhaltigen Einfluss darauf haben, wie ältere Menschen in der Gesellschaft wahrgenommen und behandelt werden, und anderseits auch darauf einwirken, wie sich ältere Menschen selbst wahrnehmen.

Zur Autorin

Sabina Misoch ist promovierte Soziologin und Leiterin des Instituts für Altersforschung an der Ostschweizer Fachhochschule in St. Gallen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Alter(n), Technikakzeptanz, ICT, Soziale Robotik, Identitätsarbeit, Longevity und qualitative Forschungsmethoden. Sie leitet aktuell mehrere Projekte u. a. in den Bereichen Technologien für ältere Menschen, Identitätsarbeit beim Übergang in die Verrentung, Digital Skills von Personen über 50 und Palliativcare in ländlichen Regionen der Schweiz; zudem hat sie die Projektleitung des nationalen Verbundprojekts «AGE-INT» inne. Sie ist Mitglied in verschiedenen nationalen und internationalen Kommissionen, Stiftungs- und Verwaltungsräten.

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