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Facetten der akademischen Freiheit in der Schweiz

Autor: Christian Weibel (SAGW) | Redaktion: Stella Noack (SAGW)

Die Konturierung von akademischer Freiheit in der Schweiz entwirft ein heterogenes Stimmungsbild. Darauf deutet eine qualitative Umfrage der SAGW zu Forschungsatmosphäre, Lehrklima und Debattenkultur an Schweizer Hochschulen hin.

Akademische Freiheit als sozialer Prüfstein

Akademische Freiheit stellt einen Schlüsselwert für Hochschulen dar, der in bewegten Zeiten vermehrt zur Reflexion und zu Debatten anregt und sich dabei als entscheidender Prüfstein für die gesellschaftliche Bedeutung von Forschung und Lehre erweist. Was ist ihr Sinngehalt und ihre Tragweite? Worauf bezieht sie sich, wovor schützt und wozu dient sie? Gilt sie ausschliesslich für die an Hochschulen erfolgende Vermittlung von fachspezifischem Wissen und Kompetenzen oder umfasst sie auch öffentliche Wortmeldungen zu aktuellen Themen, sei es zum geschlechtergerechten Sprachgebrauch, zu den Auswirkungen des Klimawandels oder zu kriegerischen Konflikten?

Die akademische Freiheit, so titelte kürzlich eine Zeitung, sei bedroht durch ideologisch geprägte Gesinnungen. Es fehle an einem allgemein akzeptierten Verständnis von der Universität als Ort des offenen Dialogs, der unterschiedliche Sichtweisen zulasse und zudem Raum biete für eine kritisch distanzierte Konfrontation mit unzeitgemässen Werken, die nicht mit gegenwärtigen gesellschaftlichen Werten übereinstimmen. Da von Medienschaffenden ausserdem verschiedentlich die Möglichkeit von (Selbst)Zensur ins Feld geführt wird, ist die Berechtigung solcher Bedenken – das Ausmass und der Gehalt der nicht geäusserten Thesen, nicht behandelten Werke oder nicht durchgeführten Lehrveranstaltungen – schwierig abzuschätzen.

Eine Arbeitsgruppe der SAGW eruiert Diskussionsbedarf

Die Auseinandersetzung mit den Konturen der Freiheit von Forschung und Lehre wird in vergangener Zeit allerdings nicht nur medial geführt, sondern auch von Hochschulangehörigen selbst, und zwar im Rahmen von wissenschaftlichen Publikationen und Veranstaltungen.1 Um Diskussionsbedarf sowie aktuelle Entwicklungen zum Thema der akademischen Freiheit zu eruieren, hat die SAGW 2022 eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe gegründet, die sich damit befasst und dabei die Rolle von Macht, Minoritäten und Medien sowie Aspekte wie Tabu und Toleranz reflektiert. Nach angeregtem Gedankenaustausch und Abwägen der Vor- und Nachteile einer Umfrage wurde das Politik- und Kommunikationsforschungsunternehmen gfs.bern beauftragt, qualitative Leitfadeninterviews durchzuführen mit 20 Hochschulangehörigen aus dem Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften, ausgewählt anhand von Kriterien wie Fachgebiet, Position, Affiliation und Geschlecht.2 Angesprochen wurden neben der akademischen Freiheit die Forschungs- und Lehratmosphäre sowie die Debattenkultur an Schweizer Hochschulen. Ein Anliegen bestand darin, die Diskussion innerhalb der SAGW-Arbeitsgruppe um weitere Standpunkte zu ergänzen und mögliche blinde Flecken zu verorten.

Hinweise auf Divergenz zwischen medialem Diskurs und gelebter Praxis

Die nicht repräsentativen Äusserungen der Befragten eröffnen ein weites Feld. Es kommt zum Beispiel die Sorge zur Sprache, dass geistes- und sozialwissenschaftliche Fachbereiche im Vergleich zur naturwissenschaftlichen und anwendungsorientierten Forschung weniger finanziell gefördert werden und gesellschaftlich anerkannt sind. Zudem wird erwähnt, dass eine erhöhte Sensibilisierung für Themen wie Gender und Diversität zu konstruktiven Diskussionen führen könne sowie zu Anpassungen von Curricula, die auf Grund von diskriminierenden Inhalten adaptiert werden. Während ein Votum legitimen moralischen Druck als unbegrenzt erachtet, berichten andere von einer abgeschwächten Debattenkultur, in der Personen angesichts möglicher negativer Reaktionen oder Konsequenzen kontroverse Standpunkte zu meiden versuchen. Obschon sich aus den verschiedenen Stimmen kein eindeutiges Stimmungsbild erschliessen lässt, sprechen einige Indizien dafür, zu differenzieren zwischen einem medial geführten Diskurs über akademische Freiheit einerseits und der an den Hochschulen gelebten Praxis andererseits.

Kantonale Hochschulgesetze mit Pioniergeist

Vor dem Hintergrund heutiger Diskussionen ist nicht zuletzt die gesetzliche Verankerung und deren geschichtliche Entwicklungsschritte von Bedeutung. Erst seit der 1999 in Kraft tretenden Bundesverfassung wird die Wissenschaftsfreiheit beziehungsweise die «Freiheit der wissenschaftlichen Lehre und Forschung» explizit als eigenes Grundrecht gewährleistet (Art. 20). Allerdings ist bemerkenswert, dass die Kantone Zürich und Bern Pioniergeist bewiesen haben, insofern sie die akademische Lehr- und Lernfreiheit bereits in den 1830er-Jahren ausdrücklich in ihre jeweiligen Hochschulgesetze aufgenommen hatten.3

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erscheint ferner die Rechtspraxis des Bundesgerichts relevant, das sich insbesondere durch kantonale Restriktionen in der Fortpflanzungsmedizin veranlasst sah, die Frage nach der Forschungsfreiheit als ungeschriebenem Verfassungsrecht zu erwägen. Ohne abschliessend dazu Stellung zu nehmen, wird 1989 in einem bundesgerichtlichen Entscheid darauf verwiesen, dass die Wissenschaftsfreiheit zwar einen «Bestandteil der demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung» darstelle, aber «deren Konturen und Grenzen nicht leicht zu umschreiben [seien]», da Forschende nicht nur Freiräume benötigen, sondern auch in mehrfacher Hinsicht auf staatliche Institutionen angewiesen seien.4

Staatliche Förderung im Zeichen von Neutralität und Pluralität

Der Stellenwert staatlicher Förderung ist für die heutige Forschung kaum zu überschätzen. So findet die Freiheit der Lehre und Forschung zum einen als Grundsatz im Hochschulförderungs- und -koordinationsgesetz (Art. 5) Erwähnung und muss als Kriterium für die institutionelle Akkreditierung von Hochschulen erfüllt werden, damit sie sich «Universität», «Fachhochschule» oder «Pädagogische Hochschule» nennen dürfen und Bundesbeiträge erhalten können. Zum anderen spielt bei der Forschungsförderung der Grundsatz eine wichtige Rolle, dem zufolge die forschungswürdigen Gebiete und Methoden möglichst neutral und pluralistisch – sprich unter Berücksichtigung der Vielfalt der wissenschaftlichen Meinungen – zu unterstützen sind. Angesichts der unterschiedlichen infrastrukturellen und finanziellen Bedürfnisse sei dabei jedoch weder eine vollständige Gleichbehandlung anzustreben noch lassen sich daraus konkrete Ansprüche auf Finanzierung ableiten.5

Fortwährendes Ausloten von Freiräumen und Toleranzgrenzen

Der rechtliche Rahmen der Forschungsfreiheit und -förderung gibt selbstredend keine direkte Auskunft über soziale oder kommunikationsspezifische Faktoren, die an den Hochschulen die Atmosphäre in Lehre und Studium beeinflussen. Inwiefern begegnen sich Studierende und Dozierende im akademischen Alltag mit dem erforderlichen Respekt und der gebotenen Offenheit? Inwiefern fühlen sich Forschende uneingeschränkt darin, ihre Expertise öffentlich zu kommunizieren oder (auf Anfrage) zu politischen Debatten Stellung zu beziehen? Wer entscheidet mit welchem Recht darüber, welche Ansichten die Toleranzgrenzen wissenschaftlicher Diskurse überschreiten? Die von der SAGW beauftragte Umfrage bestätigt gleichsam den Eindruck von den unscharfen Konturen der akademischen Freiheit, welchen das Bundesgericht 1989 schilderte. Denn wie wir Freiheit definieren, allgemein und situativ, ist abhängig von den Grenzen, die wir ziehen. Wo die Grenzen der akademischen Freiheit verlaufen beziehungsweise gezogen werden sollten, wie sie geschützt werden kann und anhand welcher Kriterien sie bestimmt werden soll, bleibt eine fortwährende gesellschaftliche Auseinandersetzung. Das heterogene Stimmungsbild, welches die SAGW-Umfrage präsentiert, ist Ausdruck dieses facettenreichen Aushandlungsprozesses.

Referenzen und Anmerkungen

[1] Vgl. Aus Politik und Zeitgeschichte: Wissenschaftsfreiheit, 46/2021 (online). La liberté académique: Enjeux et menaces. Bruxelles, 2021 (online). Özmen, Elif (2021): Wissenschaftsfreiheit im Konflikt – Grundlagen, Herausforderungen und Grenzen, Berlin. Borsche, Tilman (2022): Akademische Freiheit: Orte und Regeln des freien Wortes im Wandel geschichtlicher Kontexte, Baden-Baden. ZHAWARE Veranstaltung 3: Wokeness und Wissenschaftsfreiheit, April 2023 (Programm online).

[2] Vgl. gfs.bern (2023): Akademische Freiheit: Forschungsatmosphäre, Lehrklima und Debattenkultur an Schweizer Hochschulen. Bericht im Auftrag der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, Bern. https://doi.org/10.5281/zenodo.7945690

[3] Vgl. Schwander, Verena: «Von der akademischen Lehrfreiheit zum Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit – Entwicklung der Wissenschaftsfreiheit in der Schweiz aus verfassungsrechtlicher Sicht», in: Müller, Rainer Albert und Rainer Christoph Schwinges: Wissenschaftsfreiheit in Vergangenheit und Gegenwart, S. 277–305.

[4] BGE 115 Ia 234 (1989).

[5] Vgl. Bundesgesetz über die Förderung der Forschung und Innovation (FIFG), Art. 6. Zudem Kley, Andreas: Die Wissenschaftsfreiheit (Art. 20), 2004, in: Mauron, Pierre: Schweizerische juristische Kartothek: fortlaufend ergänzte Kartothek der eidgenössischen und kantonalen Rechts-, Wirtschafts-, Sozial- und Steuerpraxis nach dem neuesten Stand der Gesetzgebung und der Rechtsprechung. Genf, S. 1–12. https://www.zora.uzh.ch/id/eprint/3861/

Zum Autor

Christian Weibel befasst sich als wissenschaftlicher Mitarbeiter der SAGW unter anderem mit Wissenschaftskultur und Bildungspolitik und koordiniert die Arbeitsgruppe zum Thema «Akademische Freiheit».

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