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Geht es um Politik, ist Wissenschaft immer Hilfswissenschaft

Autor: Servan Grüninger, Präsident von Reatch! | Edition: Julie Zingg und Lea Haller (SAGW)

Gelangen wissenschaftliche Erkenntnisse in die Politik, dienen sie Zielen, die nicht jene der Wissenschaft sind. Das Beispiel der Statistik zeigt, welche Verantwortung damit einhergeht – und dass Wissenschaft auch dann Macht entfaltet, wenn sie den normativen Rahmen nicht selbst bestimmen kann.

Die Statistik kommt vom Staat. Der Begriff beschrieb ursprünglich eine Form der Staatskunde1, die all das erfassen sollte, worüber der Staat herrschte: Dörfer und Städte, Wälder und Berge, Felder und Pflüge. Diese für das Staatswesen essenzielle Rolle erfüllt die Statistik auch heute noch, doch sie ist längst mehr geworden als die Wissenschaft vom Staat. In der empirischen Forschung nimmt sie eine zentrale Stellung ein, wenn es darum geht, Daten korrekt zu erheben, zu analysieren, zu interpretieren und zu vermitteln. Auch wirtschaftliche und gesellschaftliche Umwälzungen schreiten mit tatkräftiger statistischer Unterstützung voran. So entpuppt sich Big Data, also die Verarbeitung grosser Datenmengen, bei genauerer Betrachtung genauso von Statistik getrieben wie jene Durchbrüche im Bereich der künstlichen Intelligenz, die es erlauben auf Knopfdruck Texte zu erstellen, Bilder zu zeichnen oder Stimmen von Menschen zu imitieren2. Auch mit Bruttoinlandprodukt, Wettervorhersagen oder Sprachmodellen werden statistisch Wirklichkeiten geschaffen, an denen sich die Gesellschaft orientiert3.

Trotz dieser besonderen Rolle ist die Statistik bloss eine Hilfswissenschaft geblieben. Ihre Macht ist eine methodische; den normativen Rahmen, in dem sie zum Einsatz kommt, geben meist andere vor. Das macht sie zu einem guten Beispiel, um über das Verhältnis von Wissenschaft und Politik nachzudenken. Denn in der Politik wird jede Wissenschaft zur Hilfswissenschaft: Sie dient Zielen, die nicht ihre eigenen sind.

Auf politische Fragen gibt es keine wissenschaftliche Antwort

Wissenschaft hat das Ziel, Wissen zu schaffen und zu teilen. Ziel der Politik ist es hingegen, einen gemeinsamen Willen zu bilden und ihn durchzusetzen. Ob man als Wissenschaftlerin in einer Expertenkommission sitzt, dem Parlament Auskunft gibt4 oder sich aktivistisch, lobbyistisch oder schlicht staatsbürgerlich für eine Sache einsetzt: Das Ziel, das man dabei erreichen will, ist kein wissenschaftliches, sondern ein politisches. 

Ähnlich sieht es aus, wenn man die Rolle von Statistiker·innen beim Beantworten einer fachlichen Frage betrachtet: Sie können aufzeigen, wie Daten erhoben und analysiert werden müssen, um daraus neue Informationen zu gewinnen und verallgemeinernde Schlüsse zu ziehen. Sie können dabei helfen zu verstehen, was sich aus einem bestimmten Datensatz, aus einer beobachtenden Studie oder einem Experiment herauslesen lässt und was nicht. Sie können fragwürdige Forschungspraktiken kritisieren, die auf einem irreführenden Gebrauch von statistischen Prinzipien und Methoden beruhen. Mit Statistik nicht beantworten lässt sich jedoch die Frage, was überhaupt mit Statistik erforscht werden soll und wie sich die statistisch analysierten Resultate ins Theoriegebäude der jeweiligen Disziplin einfügen, in denen sie erhoben wurden. Die Fragen, die mithilfe von statistischen Methoden in Biologie, Wirtschaft oder Soziologie beantwortet werden, sind keine statistischen Fragen. Ebenso wenig sind die Fragen, die politisch verhandelt werden, wissenschaftliche Fragen. Wissenschaft kann deshalb lediglich dabei helfen, jene Wissenslücken zu füllen, die für die Beantwortung von politischen Fragen relevant erscheinen. Auf politische Fragen wissenschaftliche Antworten zu geben, ist hingegen genauso unsinnig wie der Versuch, wissenschaftliche Fragen rein statistisch zu beantworten. 

Wer helfen will, muss wissen, wo Hilfe gefragt ist

Wer Antworten liefern soll, muss also wissen, was die Frage ist. So banal das klingt, so oft geht es in der Praxis vergessen, wenn Statistiker·innen um Rat gefragt werden. Es herrscht vielerorts die Vorstellung vor, dass es genüge, Daten zu sammeln, um Wissen zu schaffen. Doch jede Statistik ist an theoretische Annahmen, fachlichen Kontext und methodische Entscheidungen gebunden5.

Was für die Statistik im Kleinen gilt, gilt für die Wissenschaft im Grossen: Sie wird allzu oft missverstanden als universelle Problemlösungsmaschine, die jedes gesellschaftspolitische Problem beseitigen kann. Doch wie die Statistikerin muss auch der Physiker oder der Soziologe wissen, bei was er helfen soll, bevor er helfen kann. Wer in politischen Belangen fordert, «auf die Wissenschaft zu hören» – egal ob auf der Strasse oder vom Schreibtisch aus –, macht es sich zu einfach, weil er verkennt, dass Wissen allein nicht ausreicht, um Zielkonflikte zu lösen6

Wissenschaft, die politisch mandatiert wird, ohne dass geklärt wurde wofür, sorgt nicht nur für Missverständnisse, Kompetenzrangeleien und politische Streitigkeiten, sondern wird auch leicht angreifbar. Das liess sich während der Pandemie am Beispiel der Covid-19-Taskforce gut beobachten, als politische Stellvertreterdebatten schnell auf dem Buckel der Wissenschaft ausgetragen wurden7.

Wissenschaft ohne Kritik ist keine Wissenschaft mehr

Es wäre jedoch naiv zu glauben, dass ein klares Mandat vor politischen Druckversuchen schützen würde. Schliesslich haben die Universitäten den Auftrag, auf fachlich unabhängige Weise Wissen zu schaffen. Dennoch sehen sich Forschende bisweilen genötigt, nur Wissen zu schaffen und zu teilen, das politisch genehm ist8. Solche Versuche, die akademische Freiheit einzuschränken, untergraben langfristig das, was Wissenschaft überhaupt politisch wertvoll macht: Wer sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützt, verknüpft damit die Erwartung, mehr in der Hand zu haben als Spekulation oder Meinung. 

Es macht also durchaus Sinn, den Wissenschaften eine Sonderrolle in der Politik zukommen zu lassen. Doch diese Rolle kann die Wissenschaft nur erfüllen, wenn es Raum für Kritik gibt. Wie sonst sollen Fehler erkannt und korrigiert werden? Wissenschaft, der man die Zähne der Kritik gezogen hat, ist keine Wissenschaft mehr. 

Auch hier zeigen sich Parallelen zur Rolle der Statistik innerhalb der Wissenschaften. Zuweilen ist eine Statistikerin mit dem Problem konfrontiert, dass nicht die ergebnisoffene Erhebung und Analyse von Daten im Vordergrund steht, sondern dass man die «richtigen» Resultate generieren möchte, um den nächsten Förderbeitrag zu erhalten oder die nächste Publikation zu veröffentlichen. Eine solche Haltung degradiert die Statistik zu einem blossen Taschenspielertrick, der methodische Verlässlichkeit vorgaukelt, ohne sie zu tatsächlich zu liefern. Statistische Inferenz, also das Schliessen von konkreten Beobachtungen auf hypothetische grössere Zusammenhänge, hilft nur dann beim wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn, wenn sie dazu benutzt wird, eine wissenschaftliche Hypothese von verschiedenen Seiten kritisch zu prüfen. Wer hingegen lediglich jene statistischen Ergebnisse akzeptiert, die gewünscht sind, macht die Statistik wissenschaftlich wertlos – genauso wie eine politisierte Wissenschaft politisch wertlos wird.

Referenzen

[1] William, A. Guy (1865): On the Original and Acquired Meaning of the Term "Statistics," and on the Proper Functions of a Statistical Society: also on the Question Whether There be a Science of Statistics; an, if so, What are its Nature and "Social Science", in: Journal of the Statistical Society of London 28 (4). https://doi.org/10.2307/2338573

[2] Friedrich, Sarah et al. (2022): Is there a role for statistics in artificial intelligence?, in: Advances in Data Analysis and Classification 16 (4). https://doi.org/10.1007/s11634-021-00455-6 

[3] Grüninger, Servan (2023): Falsche Wahlresultate, zu hohe Temperaturen bei SRF: Statistiken schaffen Wirklichkeit – umso wichtiger ist es auch für Medien, ihnen nicht blind zu vertrauen, in: Neue Zürcher Zeitung, https://web.archive.org/web/20231106143729/https://www.nzz.ch/feuilleton/bfs-panne-wahlen-mitte-fdp-srf-meteo-bucheli-wie-statistiken-wirklichkeiten-schaffen-ld.1762743, Stand: 29.10.2023.

[4] Ammann, Odile et al. (2023): Wer wird gehört? Wissenschafter:innen in den Anhörungen der parlamentarischen Sachbereichskommissionen, in: Swiss academies communications, 18 (3). https://doi.org/10.5281/zenodo.7920153

[5] Grüninger, Servan (2021): Datenkompetenz: Wer Zahlen sprechen hört, sollte zum Arzt gehen, in: Medienwoche, https://web.archive.org/web/20231022032657/https://medienwoche.ch/2021/02/02/datenkompetenz-wer-zahlen-sprechen-hoert-sollte-zum-arzt-gehen/, Stand: 22.10.2023.

[6] Grüninger, Servan (2021): Idiotische Streitereien, in: Schweizer Monat, https://web.archive.org/web/20231022031540/https://www.servangrueninger.ch/blogcomplete/ein-idiotischer-streit, Stand: 01.12.2021.

[7] Hofmänner, Alexandra (2021): The Role of Science in the Swiss Policy Response to the COVID-19 Pandemic, in: Swiss Academies Reports. https://zenodo.org/records/5584118 und Hirschi, Caspar et al. (2022): Wissenschaftliche Politikberatung in Krisenzeiten in der Schweiz: Eine Analyse der Finanzkrise, des Fukushima-Unfalls und der Covid-19-Pandemie, Schlussbericht zuhanden des Schweizerischen Wissenschaftsrats (SWR). https://web.archive.org/web/20231214223639/https://wissenschaftsrat.ch/images/stories/pdf/de/SWR_2022_Wissenschaftliche_Politikberatung.pdf

[8] Ammann, Odile (2021): Zur unscharfen Grenze zwischen Wissenschaftsfreiheit und Meinungsäusserungsfreiheit., in: Recht und Zugang 3 (2). https://doi.org/10.5771/2699-1284-2021-3-194

Zum Autor

Servan Grüninger ist Mitgründer und Präsident der wissenschaftlichen Ideenschmiede «Reatch! Research. Think. Change.», die sich für eine wissenschaftsfreundliche Kultur einsetzt. Er hat sein Studium mit Politikwissenschaften und Recht begonnen und mit Biostatistik und Computational Science abgeschlossen. Zurzeit doktoriert er am Institut für Mathematik der Universität Zürich in Biostatistik mit Fokus auf Versuchsplanung und Methodenforschung.

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