Details

Ästhetik des Mittelstandes? Reduktion im Wohnen als Distinktion

Stefan Groth, Empirischer Kulturwissenschaftler
Gesellschaft – Kultur – Sprache

Wohnraum wird kleiner, besonders im urbanen Raum. Das wird aber nicht nur als Problem gesehen, sondern ebenso als ästhetisches Prinzip aufgewertet.

Die Siedlung Neubühl in Zürich-Wollishofen entstand zu Beginn der 1930er-Jahre als Mustersiedlung des Neuen Bauens. Geplant durch eine Gruppe junger Avantgarde-Architekten unter der Maxime des befreiten Wohnens bot sie eine offene und helle Alternative zu konventionellen Blockrandbebauungen der Zeit. Der Neubühl-Genossenschaft ging es, anders als etwa bei der Stuttgarter Weissenhof-Siedlung oder in der Programmatik von Le Corbusier oder Mies van der Rohe, nicht primär um soziale Motive oder einen niedrigen Mietzins. Die Minimalwohnungen Neubühls sind eher als positive Reduktion, als Begrenzung und Fokussierung auf wesentliche Elemente zu verstehen und als Antwort auf die Frage, wie ein Massenwohnungsbau ästhetischen Ansprüchen genügen und dabei Elemente der Umgebung – der Blick auf Zürichsee und Gartenanlagen – einbeziehen kann.

Die Neubühl-Genossenschaft wollte nicht in erster Linie bezahlbaren Wohnraum anbieten, sondern richtete sich an den besserverdienenden Mittelstand. Die generelle Notwendigkeit nach Wohnraum trifft hier auf ein erzieherisches Verständnis des Neuen Bauens, das mit Reduktion und Funktionalität einen normativen Impetus verband: Es sollte weniger Ballast und weniger Prunk geben, sowohl in der Gestaltung von Häusern wie auch in der Inneneinrichtung, Letzteres durch die mit der Genossenschaft verbundene Wohnbedarf AG.

Mittelklasse mit Selbstverständnis als ästhetische Avantgarde

Die Tendenzen der räumlichen und gestalterischen Reduktion, die sich an Neubühl zeigen lassen, werden nicht als Durchschnitt verstanden, sondern als Besonderheit, die durch kulturelles Kapital erst entschlüsselt worden ist. So gehörten zu den ersten Mieter:innen Neubühls Architekten, Fotografen, Lehrer, Beamte und Angestellte, die sich von Projekt, Lage und Architektur am Rand Zürichs angezogen fühlten. Diese Wertschätzung für kleine und reduzierte Wohnungen, deren Mietzins nur für die Mittelschicht bezahlbar war, war und ist keine Selbstverständlichkeit: Sie bedarf zunächst des Wissens über dahinterstehende Prämissen und Ästhetiken, der Ausbildung des entsprechenden Geschmacks für eine reduzierte, raumsparende Ästhetik und des Willens, diese Begrenzungen nicht nur hinzunehmen, sondern auch als Vorteil zu begreifen. Die ästhetischen Aspekte Neubühls boten Möglichkeit zur Distinktion und zur Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, die sich durchaus als Avantgarde verstand.

Reduktion im Wohnen als Vorteil und Identitätsmerkmal

Dass Geltungskonsum und Distinktion durch ästhetische Praktiken des Wohnens auch heute eine zentrale Rolle spielen, fasst der Soziologe Andreas Reckwitz zusammen: «Das Wohnen – der Wohnort wie die Gestaltung der Wohnung – avanciert zu einer Quelle spätmoderner Identität.» Reckwitz attestiert der «Akademikerklasse zwischen Vancouver, Amsterdam und Melbourne» einen «Kulturkosmopolitismus des Interior Design», der sich durch «Klarheit, Ruhe und schlichte Eleganz einerseits, Interessantheit und kulturelle Diversität andererseits» auszeichne. Die Form des kuratierten Wohnens im Zusammenkommen von Reduktion und Besonderheit, von Wohnort und Wohngestaltung findet sich in den Grundzügen auch beim Beispiel Neubühl.

Wohlgemerkt sind diese ästhetischen Präferenzen nicht charakteristisch für ‹den› Mittelstand.

Reduktion im Wohnen als Vorteil und Identitätsmerkmal

Sie zeigt sich ebenso in zeitgenössischen Konstellationen, in denen reduziertes und kleines Wohnen der «neuen Mitteklasse» als ökonomisch und kulturell privilegiert aufgefasst wird. Reduktion im Wohnen gilt dabei als Möglichkeit oder Vorteil und nicht als Nachteil oder unfreiwillige Begrenzung. Solche Bezüge auf ein Masshalten im Wohnen sind eng verknüpft mit ästhetischen Dimensionen des Wohnens, die Architektur wie Design betreffen. Sie operieren nicht unbedingt in Referenz auf das Neue Bauen und entsprechende Tendenzen des Möbelbaus, wiewohl Entwürfe der Wohnbedarf AG gerade in der Schweiz eine grosse Anhängerschaft haben. Zentral verweist die ästhetische Sprache auf den Mid-Century-Modernism skandinavischer Prägung oder auf japanisches Interior Design. Diese Trends geht es insbesondere um hochwertige und hochpreisige Möbel – Reduktion und Schlichtheit haben ihren Preis.

Wohlgemerkt sind diese ästhetischen Präferenzen nicht charakteristisch für «den» Mittelstand. Sie stellen eine spezifische, gegenwärtig beliebte Ausprägung dar, die sich in populärkulturellen Formaten widerspiegelt: Von Einrichtungsblogs, Interior Design-Magazinen, Buchpublikationen über kleines Wohnen und Möbelmessen bis zu den Inneneinrichtungen von Möbelgeschäften, Cafés und Privatwohnungen findet sich ein ästhetischer Stil, der in der Formensprache klar und auf begrenzten, vor allem urbanen Raum angepasst ist. Diese räumliche Begrenzung wird dabei nicht unbedingt als Problem oder Beschränkung aufgefasst, sondern ebenso als positive Entwicklung hin zu neuen, notwendigen und qualitativ hochwertigen Wohnkonzepten verstanden, die ästhetisch anspruchsvoll sind.

Antwort auf zugleich ökonomische, ökologische und ästhetische Ansprüche

Hier kommen unterschiedliche Faktoren zusammen: Ästhetische Trends der Reduktion und des Masshaltens im Wohnen treffen auf urbane Entwicklungen der Wohnraumverknappung und steigenden Mietzins. Auch für Angehörige der neuen Mittelklasse ist es schwierig, grosse Wohnungen zu bezahlen. Zudem ist Nachhaltigkeit im Wohnen, insbesondere im urbanen Kontext, zu einer zentralen Variablen geworden: Debatten über den ökologischen Anspruch des Wohnens sind Alltag und Gegenstand politischer Debatten, in denen es auch um die ‹angemessene› Grösse der Wohnfläche geht.

Die Reduktion ist nicht nur ästhetisches Prinzip, sie ist auch Möglichkeit zur normativen Distinktion.

In diesem Zusammenhang lässt sich auch von einer reduzierten Ästhetik sprechen, die für sich in Anspruch nimmt, ethisch und nachhaltig zu sein – und dies zum Beispiel über den Kauf von hochpreisigen und nachhaltigen Produkten. Die Wohngestaltung der neuen Mittelklasse wird so nicht lediglich an ästhetischen Merkmalen, sondern zunehmend auch an ökologischen Kriterien gemessen. Nachhaltigkeit kann in diesem Bereich als Privileg angesehen werden: Es sind vor allem Designermöbel im oberem Preissegment, bei denen nachhaltige Rohstoffe und Produktionsprozesse ausgewiesen werden. Deren Konsum muss man sich also zunächst leisten können. Die Reduktion ist damit nicht nur ästhetisches Prinzip, sie ist auch Möglichkeit zur normativen Distinktion.

Weiterführende Literatur

Stefan Groth: Ästhetik, Nachhaltigkeit, Begrenzung: Anmerkungen zu normativen Dimensionen des kleinen Wohnens. Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung 56, S. 73–87. https://doi.org/10.5167/uzh-205294 

Emanuel La Roche: Im Dorf vor der Stadt: Die Baugenossenschaft Neubühl, 1929-2000. Zürich 2019.

Andreas Reckwitz. Die Gesellschaft der Singularitäten: Zum Strukturwandel der Moderne. Frankfurt a.M. 2017.

Autor

Zum Autor

Stefan Groth ist Senior Research Fellow am Centre for Global Cooperation Research (Duisburg-Essen) und Privatdozent am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft (ISEK) der Universität Zürich. Seine Habilitation hat er über «Mittelmass als Praxis und Konstellation: Orientierungen am Mittelmass aus empirisch-kulturwissenschaftlicher Perspektive» verfasst.

Open Access

Dies ist eine Open-Access-Publikation, lizenziert unter CreativeCommons CC BY-SA 4.0.

Disclaimer

Die Blogbeiträge können Meinungsäusserungen der AutorInnen enthalten und stellen nicht grundsätzlich die Position der jeweiligen Arbeitgeberin oder der SAGW dar.