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Eine gefährlich fanatische Jagd nach dem Null-Risiko

Ahmed Ajil, Uni Lausanne
Recht und Politik

Aus wissenschaftlicher Sicht sind Nutzen und Verhältnismässigkeit von Präventivmassnahmen gegen Terrorismus umstritten. Dennoch möchte die Schweiz diese weiter ausbauen.

«Krieg ist eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln», schrieb einst Carl von Clausewitz. Ähnlich verhält es sich mit Terrorismus. So alt wie die Menschheit ist die Durchsetzung politischer und ideologischer Überzeugungen mittels Gewalt. Mindestens so alt ist auch der tief verankerte Glaube, dass man sich gegen Angriffe wehren darf und soll. «Das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung» wird auch im jüngsten Kapitel der Geschichte der Menschheit in der UN-Charta hervorgehoben. «Terrorist*innen» sehen sich als Befreier der Erdrückten, als Märtyrer im Kampf gegen Ungerechtigkeit.

Welche Motive dem Phänomen politisch-ideologisch motivierter Gewalt auch zugrunde liegen mögen: Sicher ist, dass terroristische Gewalttaten und Anschläge – sei es durch Staaten oder durch nichtstaatliche Gruppierungen – unschuldige und unbeteiligte Menschen treffen. Es ist daher verständlich und richtig, dass Staaten versuchen, terroristische Gewalt möglichst frühzeitig zu verhindern.

Der Bumerang-Effekt des «Global War on Terror»

Diese Präventionsbemühungen durchliefen nach den 9/11-Anschlägen verschiedene Phasen. Von einem aggressiven «Global War on Terror», basierend auf einem traditionellen Kriegsverständnis und einem von kolonial-rassistischen Stereotypen geprägten Feindbild, wird zuerst dort bombardiert, getötet, eingesperrt und gefoltert, wo man eine Art Hauptquartier einer strukturierten Terrororganisation vermutet. Bald stellt sich jedoch heraus, dass diese militärische Antwort nicht die gewünschten Resultate liefert, enormen Schaden anrichtet und dadurch das Problem zu verschlimmern scheint. Empört über das Wüten westlicher Kräfte in Afghanistan und Irak begehen nämlich mehrere Individuen Attentate in europäischen Hauptstädten und bestätigen die These eines verheerenden Bumerang-Effekts.

Radikalisierungstheorien sind in den Sozialwissenschaften weiterhin Gegenstand grundlegender Diskussionen, haben sich aber für die Politik und das Policy-Making weitgehend etabliert.

Da es sich bei den Attentätern um Personen handelt, die in Europa aufwuchsen, richtet sich die Präventionsstrategie nun gegen den «enemy within». Als Erklärungsansatz für die Werdegänge der «European-born-and-bred»-Attentäter macht sich im angelsächsischen Raum das Konzept der «Radikalisierung» beliebt. Radikalisierungstheorien sind in den Sozialwissenschaften weiterhin Gegenstand grundlegender Diskussionen, haben sich aber für die Politik und das Policy-Making weitgehend etabliert. Postuliert wird, dass eine Kausalität bestehe zwischen «radikalen Gedanken» und politisch-ideologisch motivierter Gewalt. Um Radikalisierung im Keim zu ersticken, muss demzufolge so früh wie möglich eingegriffen werden. Unter anderem manifestiert sich dies im sogenannten «Präventivstaat» (Preventive State), dessen Aufstreben sich auch im helvetischen Kontext nachzeichnen lässt.

Der «Swiss Preventive State»

Aus strafrechtlicher Perspektive werden in der Schweiz heute Handlungen unter Strafe gestellt, die sich weit abgekoppelt von einer terroristischen Gewalttat abspielen. Wie expansiv und präventiv der strafrechtliche Umgang mit «Terrorismus» ist, zeigen Beispiele aus der jüngsten Rechtsprechung, die wir hier aufgearbeitet haben: So zieht ein Facebook-Post eines einzigen Videos mit dem Emblem des «IS» eine strafrechtliche Verurteilung nach sich; der reine Besitz (sei es auch nur im Cache-Speicher des Smartphones) von Videos des «IS», welche Gewalttaten zeigen, wird strafrechtlich geahndet; und das Abspielen von Kriegsliedern des «IS» im privaten Raum, in der Anwesenheit Dritter, führt zu mehreren Monaten bedingter Freiheitsstrafe. Die Personen, die in der Schweiz seit 9/11 für terroristische Straftatbestände verurteilt wurden, waren hauptsächlich in Aktivitäten involviert, die sich im Netz abspielten und als Propaganda für terroristische Organisationen gewertet wurden. Das Strafrecht wird hinsichtlich terroristischer Aktivitäten im Übrigen ab dem 1. Juli 2021 noch einmal ausgeweitet und deutlich verschärft.

Neben strafrechtlichen Instrumenten greifen die Bundesbehörden auch vermehrt auf administrativrechtliche Massnahmen zurück. Diese betreffen primär Ausländer*innen und Doppelbürger*innen.

Neben strafrechtlichen Instrumenten greifen die Bundesbehörden auch vermehrt auf administrativrechtliche Massnahmen zurück. Diese betreffen primär Ausländer*innen und Doppelbürger*innen. Seit 2016 weist das Fedpol Personen, die gemäss seiner eigenen Einschätzung oder derjenigen des NDB jihadistische Sympathien hegen, basierend auf Art. 68 AIG aus mit der Begründung, sie stellten eine Gefahr für die innere und äussere Sicherheit der Schweiz dar. Eine rechtskräftige Verurteilung ist hierfür nicht notwendig. Mobilisiert wird auch ein jahrzehntelang vergessener Gesetzesartikel aus der Zweitweltkriegszeit, um Personen, deren Verhalten aufgrund jihadistischer Sympathiebekundungen «den Interessen oder dem Ansehen der Schweiz erheblich nachteilig» sei, die Schweizer Staatsbürgerschaft zu entziehen (Art. 42 BüG). Asylbewerber*innen, die in irgendeiner Weise mit terroristischen Aktivitäten assoziiert werden, werden vom SEM als asylunwürdig (Art. 53 AsylG) erklärt und abgewiesen.

Kann sich die Schweiz dieser Personen aus irgendeinem Grund (zum Beispiel dem völkerrechtlichen Non-Refoulement-Gebot) nicht entledigen, so wird eine nachrichtendienstliche Überwachung sichergestellt und die Person zur Kooperation mit den polizeilichen Behörden verpflichtet. Asylbewerber*innen werden Zwangsmassnahmen auferlegt, die von Ein-und Ausgrenzung bis Haft reichen. Schweizer*innen werden ebenfalls engmaschig begleitet (unter anderem im Rahmen des kantonalen Bedrohungsmanagements), auch Jahre nachdem sie ihre Strafe verbüsst haben. In vielen Fällen wird die Begleitung auf freiwilliger Basis weitergeführt.

Frustrationsmomente durch Andersbehandlung

In meiner Doktorarbeit befasse ich mich mit den Werdegängen und Erlebnissen der Personen, die in den Augen des Staats als «terroristische Gefährder*innen» gelten. Unter anderem komme ich zum Schluss, dass der Präventivstaat durch die strafrechtliche Verfolgung von Bagatelldelikten wie dem Austausch oder gar lediglich dem Besitz von Propagandavideos sinngemäss mit Kanonen auf Spatzen zu schiessen scheint. Das führt zu grosser Verwirrung und einem Gefühl der Ungerechtigkeit bei Personen, die nicht nachvollziehen können, wieso sie als Ebenbilder eines Osama Bin Laden behandelt werden, wenn sie zu keinem Zeitpunkt in die Planung, geschweige denn Begehung einer Gewalttat involviert waren, und schon gar nicht in der oder gegen die Schweiz. Zudem ist anzumerken, dass ein Dispositiv, welches sich in einer dermassen präventiven Sphäre der Verfolgung bestimmter Formen der Politisierung verschreibt, gezwungenermassen diskriminiert. Es leuchtet nicht ohne Weiteres ein, wieso eine Empörung über die Zustände im mittleren Osten und das Leiden von Zivilisten – und damit jene Empörung, die im Zentrum der uns zurzeit am meisten beschäftigenden Radikalisierungsprozesse steht – derart versicherheitlicht und kriminalisiert wird – auch wenn sie in einem bestimmten Kontext instrumentalisiert wird von Gruppierungen wie dem «IS».

Der Präventivstaat scheint durch die strafrechtliche Verfolgung von Bagatelldelikten sinngemäss mit Kanonen auf Spatzen zu schiessen.

Diese Frustrationsmomente werden zwar von den meisten betroffenen Personen konstruktiv und geduldig verarbeitet (nicht letztlich deshalb, weil sie sich der Kosten eines jeden Fehltritts bewusst sind), können aber auch in seltenen Fällen zu Unmut und Groll (engl.: grievances) führen, welche die Hinwendung zu gewaltverherrlichenden, sich von Ungerechtigkeit nährenden Ideologien und Gruppierungen fördern.

Kontraproduktiver Ausbau des Antiterror-Dispositivs

Das schweizerische Antiterror-Dispositiv reicht also weit in die präventive Sphäre hinein und lässt kaum Spielraum für Handlungen, die in irgendeiner Weise mit einer terroristischen Bedrohung in Verbindung gebracht werden könnten. Wenn es zu Gewalttaten wie jüngst in Lugano oder Morges kommt, ist dies nicht auf die gesetzliche Grundlage, sondern die mangelnde Kooperation und Kommunikation zwischen den Behörden auf Kantons- respektive auf Bundesebene sowie zwischen polizeilichen und sozialarbeiterischen Akteuren zurückzuführen.

Dennoch sollen nun weitere polizeilich-präventive Massnahmen (PMT) eingeführt werden, um auch die Grundrechte strafrechtlich unauffälliger Personen einzuschränken, wenn diese von den Behörden als «terroristische Gefährder» erachtet werden. Zudem soll es möglich werden, Massnahmen gegen Personen zu ergreifen, die nicht ausgeschafft werden können. In Anbetracht der Tatsache, dass das bestehende Dispositiv bereits sehr weit in die präventive Sphäre vordringt, ist ernsthaft zu befürchten, dass die Polizeimassnahmen das Leben vieler Personen enorm und unnötig erschweren würden, was sich über kurz oder lang als kontraproduktiv erweisen kann. Terrorismus gedeiht nämlich genau dort, wo die Grundrechte mit Füssen getreten, wo unschuldige Menschen verfolgt, verhaftet, gefoltert und ausgeschafft werden.

Mit den PMT wird sich die Schweiz auf ein gefährliches Terrain bewegen, im kostspieligen Streben nach einem illusorischen Null-Risiko – auf der Jagd nach einem Feind, der weniger der Schweizer Realität entspricht, als er kinematografischen Produktionen zu entspringen scheint.

Der Autor: Ahmed Ajil

Ahmed Ajil ist Kriminologe und doktoriert an der Ecole des sciences criminelles in Lausanne zu politisch-ideologischer Mobilisierung und Gewalt im Zusammenhang mit der arabischen Welt. Im Rahmen seiner Doktorarbeit erforscht er unter anderem auch das Schweizer Antiterror-Dispositiv.

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Titelbild: Grosses Objektiv, kleine Vögel, PublicDomain, pxhere

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