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Die Grenzen des Sozialstaates

Oliver Hümbelin, Jean-Michel Bonvin und Barbara Lucas
Recht und Politik

Viele Anspruchsberechtigte beziehen die ihnen zustehenden Sozialleistungen nicht. Wie ist dieses Phänomen einzuordnen und besteht Handlungsbedarf?

Die Schweiz galt lange als Nachzüglerin im internationalen Vergleich der Sozialstaaten. Diesen Rückstand hat die Schweiz mittlerweile aufgeholt. Heute haben wir ein ausdifferenziertes System der sozialen Sicherung bei gleichzeitig moderaten Sozialausgaben (24,6 Prozent des BIP bei einem EU28-Durchschnitt von 26,5 Prozent). Soziale Risiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit, Alter werden etwa über Sozialversicherungen abgedeckt. Für jene, die durch das Netz der sozialen Sicherung zu fallen drohen, gibt es die Sozialhilfe. Während die Sozialversicherungen national geregelt sind, haben die Kantone und Gemeinden Spielräume bei der Ausgestaltung der Sozialhilfe. Durch die Verschränkung von nationalen und föderalen Elementen scheint zunächst ein lückenloses System der sozialen Sicherung zu entstehen. Verschiedene Studien deuten aber darauf hin, dass die Angebote des Sozialstaates längst nicht alle erreichen, für welche die Unterstützung gedacht ist. Dies wirft Fragen zu den (un)-gewollten Grenzen des Wohlfahrtsstaates auf – ein Thema, das international und national zunehmend Aufmerksamkeit erfährt [4].

Ausmass des Nichtbezugs von Sozialleistungen in der Schweiz

Flächendeckend systematische Zahlen zum Thema liegen bisher nicht vor, obwohl dies für die Sozialhilfe bereits politisch gefordert wurde. Dies hat nicht zuletzt mit der komplexen Organisation der sozialen Sicherung zu tun. Die kantonalen Unterschiede machen eine nationale Analyse aufwendig.

Regionale Untersuchungen zeigen aber auf, dass einige Menschen, die Anspruch auf Leistungen haben, diese nicht beziehen. Im Kanton Bern trifft dies etwa auf jede vierte Person mit einem rechnerischen Anspruch auf wirtschaftliche Sozialhilfe zu [2]. Im Kanton Genf scheinen viele Familien in prekären finanziellen Verhältnissen die ihnen zustehenden finanziellen Hilfen nicht zu beziehen [4]. Schätzungen für den Kanton Basel-Stadt zeigen, dass die Quote der Nichtbeziehenden bei Ergänzungsleistungen zur Altersrente etwa bei einem Drittel liegt und auch individuelle Verbilligungen der Krankenkassenprämien nicht erschöpfend bezogen werden. Hier fällt die Nichtbezugs-Quote mit rund 19 Prozent tiefer aus [3].

Im Kanton Genf scheinen viele Familien in prekären finanziellen Verhältnissen die ihnen zustehenden finanziellen Hilfen nicht zu beziehen.

Eine reiche internationale und zunehmend auch nationale Literatur nimmt die Gründe des Nichtbezuges ins Visier. Darunter fallen etwa Schwierigkeiten beim Zugang zu Informationen und beim Verständnis und der Orientierung im Sozialleistungssystem [5]. Erwähnung finden die anspruchsvollen administrativen Abläufe, aber auch gesetzliche Bestimmungen wie die Rückerstattungspflicht in der Sozialhilfe. Verbreitet sind zudem sozial-psychologische Erklärungen, die Hemmungen bei der Beanspruchung von Sozialleistungen thematisieren. Dabei wird die Vielschichtigkeit der Thematik klar, die eine abschliessende Einordnung erschwert und auf weiteren Forschungsbedarf verweist [4].  

Gibt es Risikogruppen des Nichtbezuges?

Die bisher für die Schweiz vorliegenden Studien zeigen auf, dass Nichtbeziehende sowohl unter Schweizerinnen und Schweizern als auch in der ausländischen Bevölkerung zu finden sind. Unter den Nichtbeziehenden mit Schweizer Pass im Kanton Basel-Stadt und im Kanton Bern sind etwa selbständig Erwerbstätige übervertreten. Für diese Gruppe scheint es schwieriger, Unterstützung einzufordern. Auffällig bei den Nichtbeziehenden von Ergänzungsleistungen zur Altersrente ist die Bereitschaft, auch nach Erreichen des Rentenalters einer Erwerbsarbeit nachzugehen. Durch zahlreiche Einschränkungen versuchen sie dabei mit der Rente und allfälligen Zusatzeinkünften unterhalb des gesetzlichen Minimalbedarfs zurechtzukommen [3]. Zudem lassen sich im Kanton Bern Unterschiede zwischen Stadt und Land feststellen. Der Nichtbezug kommt auf dem Land häufiger vor, was auf die fehlende Anonymität und auf die geringere Akzeptanz für den Bezug von Sozialleistungen zurückzuführen sein dürfte [2]. Auffällig bei den Nichtbeziehenden von Ergänzungsleistungen zur Altersrente ist die Bereitschaft, auch nach Erreichen des Rentenalters einer Erwerbsarbeit nachzugehen.

Eines besonderen Augenmerks bedarf die Situation der ausländischen Bevölkerung.

Eines besonderen Augenmerks bedarf die Situation der ausländischen Bevölkerung. Reformen des Ausländerinnen- und Ausländer- und Integrationsgesetzes koppeln die Vergabe der Aufenthalts- bzw. der Niederlassungsbewilligung zunehmend stärker an eine Unabhängigkeit von der Sozialhilfe. Sprich: Wer Sozialhilfe bezieht, muss fürchten, aus der Schweiz weggewiesen zu werden, wie dieser Blogbeitrag vor kurzem thematisierte. Dass hier noch Aushandlungsbedarf besteht, zeigt die noch unbehandelte parlamentarische Initiative «Armut ist kein Verbrechen». Es ist naheliegend, dass solche Reformen die Hürden des Sozialhilfebezugs für Personen ohne Schweizer Pass erheblich erhöhen. Das widerspiegelt sich auch in der grossen Zahl der Armutsbetroffenen, die während des Corona-bedingten Lockdowns auf Lebensmittelversorgung angewiesen waren. In den langen Schlangen waren Ausländerinnen- und Ausländer deutlich übervertreten [1].

Wie gerecht und nachhaltig ist die soziale Sicherung?

Gemeinschaftliche Absicherung in der Not, wie es Wohlfahrtsstaaten heute organisieren, ist eine Errungenschaft der Moderne. Nun stellen wir fest, dass nicht alle gleichermassen von diesem Angebot Gebrauch machen. Das wirft Fragen auf:

  • Aus einer wohlfahrtstheoretischen Perspektive kann die Frage nach der «horizontalen Gerechtigkeit» gestellt werden. Wenn Bedürftigkeit das entscheidende Kriterium des Leistungsbezugs sein soll, ist fraglich, weshalb nicht alle Haushalte in identischen finanziellen Verhältnissen gleichermassen unterstützt werden sollen. Ist das eine gerechte Organisation des Wohlfahrtsstaats?
  • Wenn Leistungen wie Sozialhilfe oder Ergänzungsleistungen nicht bezogen werden, leben Menschen unterhalb der für den jeweiligen Lebensabschnitt als angemessen erachteten Schwelle des Existenzminimums. Damit erhöht sich das Risiko negativer Folgeerscheinungen von Einschränkungen wie etwa dem Verzicht auf Gesundheitsleistungen, der zu späterem Betreuungsbedarf und der Notwendigkeit von akuten Eingriffen führen kann. So können Gesundheitskosten für die Gesellschaft anfallen, die möglicherweise hätten verhindert werden können.

Aus gerechtigkeitstheoretischen Überlegungen und auch aus der Perspektive einer nachhaltigen Sozialpolitik erachten wir es als entscheidend, sich vermehrt mit den Hürden des Sozialstaates zu beschäftigen.

Referenzen

[1] Bonvin, Jean-Michel et al. (2020): La population en grande précarité en période de COVID-19 à Genève: Conditions de vie et stratégies de résilience. Rapport final de l’étude sollicitée par la Fondation Colis du Cœur (online hier)

[2] Hümbelin, Oliver (2019): Non-Take-Up of Social Assistance: Regional Differences and the Role of Social Norms, in: Swiss Journal of Sociology 45,1, S. 7–33. https://doi.org/10.2478/sjs-2019-0002

[3] Hümbelin, Oliver et al. (2021): Nichtbezug von bedarfsabhängigen Sozialleistungen im Kanton Basel-Stadt – Ausmass und Beweggründe. Bericht im Auftrag des Amtes für Sozialbeiträge des Kantons Basel-Stadt. https://arbor.bfh.ch/15502/

[4] Lucas, Barbara, Jean-Michel Bonvin und Oliver Hümbelin, (2021): The Non-Take-Up of Health and Social Benefits: What Implications for Social Citizenship?, in: Swiss Journal of Sociology 47,2, S. 161–180. https://doi.org/10.2478/sjs-2021-0013

[5] Lucas, Barbara et al. (2019): Le non-recours aux prestations sociales à Genève. Rapport de recherche, Genève (online hier)

Zu den Autoren und zur Autorin

Oliver Hümbelin ist Dozent im Departement Soziale Arbeit der Berner Fachhochschule. Er forscht zu den Themen Armut, Ungleichheit und dem Wohlfahrtsstaat in der Schweiz. Kürzlich publizierte zum Nichtbezug von Sozialhilfe, regionalen Unterschieden der Armutsbetroffenheit und zur Verbesserung der Armutsbeobachtung in der Schweiz.

Barbara Lucas ist Professorin für Sozialpolitik an der Genfer Hochschule für Soziale Arbeit (HES-SO). Sie ist Spezialistin für öffentliche Politik in den Bereichen Soziales, Gesundheit und Care. Ihre jüngsten Arbeiten befassen sich mit der Nichtinanspruchnahme sozialer Rechte, der Beteiligung der Betroffenen an der Armutsbekämpfungspolitik, den politischen Rechten in Pflegeheimen und der Diagnose von Demenz in den Schweizer Kantonen.

Jean-Michel Bonvin ist Professor für Sozioökonomie und Soziologie, Institut für Demografie und Sozioökonomie (Ideso), Universität Genf. Zu seinen Fachgebieten gehören Sozial- und Beschäftigungspolitik, organisatorische Innovation im öffentlichen und dritten Sektor, Arbeits- und Unternehmenssoziologie sowie Gerechtigkeitstheorien, einschließlich des Capability-Ansatzes.

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Anmerkung der Redaktion

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