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Der Schlaf der Vernunft gebiert digitale Monster

Chris Bühler, Digitalisierungsethiker

Wovon träumen Philosophen, Ethnologinnen, Historiker und Marc Zuckerberg - ausser von Clubhouse und WhatsApp? Eine Traumdeutung des Digitalisierungsethikers Chris Bühler.

Lieber Herr Zuckerberg

Wovon träumen Sie? Möglicherweise beschert Ihnen das aufmüpfige alte Europa momentan Alpträume. Die Integration von WhatsApp in Ihr Datensammel-Imperium haben Sie sich bestimmt ohne diesen plötzlichen Drang vieler nach Datenschutz gewünscht. Aber da müssen Sie sich wohl kaum Sorgen machen. Die allgemeine Digitalkompetenz dürfte weiterhin nicht reichen, das sogenannte «Privacy Paradox» zu überwinden: Zwar wünschen sich viele mehr Datenschutz, klicken aber gleichzeitig auf alles, was nicht bei zwei auf den Bäumen ist - egal welche Daten sie damit freigeben (zum Beispiel die Daten des Adressbuches, um den aktuellen Hype der App «Clubhouse» aufzugreifen).

Diese Träume meinte ich aber gar nicht. Mich interessiert, ob hinter Ihren ständigen Beteuerungen, Sie wollten «die Welt näher zusammenbringen», noch mehr steckt, als eine leere Floskel. Schliesslich müssen Sie als CEO eines digitalen Platzhirsches erstmal Ihre Stakeholder befriedigen. Haben Sie also noch einen grossen Traum, oder ist eine digital optimierte, in Facebook vereinte Welt unterdessen das Ende Ihrer Wünsche?

Vielleicht liegen Sie ja manchmal nachts wach und denken an die Anfangsjahre von Facebook, als Sie Geschäftsleitungssitzungen noch höchstpersönlich mit Zitaten aus der Ilias bereicherten. Schliesslich seien Sie stolz darauf gewesen, sechs Sprachen zu sprechen, darunter auch Altgriechisch und Latein. Doch diese Begeisterung für Kultur scheint Ihnen mit den Jahren etwas abhanden gekommen zu sein: Schon die Auswahl für Ihre «Buch-Challenge» für das Jahr 2015 wirkte etwas hilflos und der Post zu Ihrer 10-Jahres-Challenge erinnert mich eher an eine Miss Schweiz, die an einer Aktionärsversammlung Buzzword-Bingo spielt, als an ein überzeugendes Mission-Statement zur Weltverbesserung.

Das Gespenst der Digitalisierung, das gerade umgeht, ist eben doch vage und schwer fassbar. Falls Sie sich da eine deutlichere Vision wünschten, kann ich das gut verstehen. Doch wenn man permanent mit «minimal viable Products» operiert, bleibt man zwar agil, aber den grossen Tiefgang erreicht man damit nicht. Vielleicht fehlen Ihnen ja einfach die inspirierenden Gedanken von Menschen, die sich die Zeit nehmen, ihren Gedankengebäuden solide Fundamente zugrunde zu legen?

Wenn Sie dabei ab und zu hoffnungsvoll in Richtung Elfenbeinturm blicken, dürften Sie enttäuscht sein. Die gewünschten Geister kämen wohl selbst dann nicht heraus, wenn Sie riefen. Aber wieso nur? Eigentlich könnte doch gerade jetzt ein goldenes Zeitalter für die Wissenschaftler*innen des Geistes und der Kultur*en anbrechen. Dass wir gefragter wären denn je, habe ich vor einiger Zeit am eigenen Leib erfahren: Beim Apéro einer renommierten, aber eben doch noch nicht elfenbeinernen Bildungsinstitution wurde ich gleich von zwei Bankern als Philosoph mit «wertvollen Fach- und Methodenkenntnissen» heftig umgarnt. Nur kurz zuvor hatte ich während der Diskussionsrunde neugierig ins Plenum gefragt, wieviele Fachphilosoph*innen im gut gefüllten Saal sässen. Immerhin ging es an dieser Veranstaltung um «Digitale Ethik» – ein Thema, das damals gerade trendy wurde. Die Antwort war zu meiner Ernüchterung in zwei Bits fassbar… Das fuchst mich zugegebenermassen immer noch, nicht zuletzt weil die «Digitale Ethik» nun definitiv als «Megatrend» im Mainstream angekommen ist –und dabei weitgehend von Marketingprofis und Unternehmensberaterinnen ohne vertieften fachlichen Hintergrund vereinnahmt wird.

Wo sind all die Philosophen, aber auch Ethnologinnen, Historiker und Konsorten, wenn es darum geht, wichtige Impulse zum Digitalen Wandel zu geben? Es wäre dringend nötig, den aktuell vorherrschenden technologisch-wirtschaftlich geprägten Diskurs um eine stärker menschlich-gesellschaftliche Perspektive ergänzen. Sonst droht der chancenreiche, digitale Wandel tatsächlich von Monstern wie «Cambridge Analytica» – notabene von Ihrer Facebook-Crew verantwortet – oder automatisiert Fake News produzierenden Bots aufgefressen zu werden. Um hier auf einen konstruktiven Pfad zu kommen, bedarf es einer breiten Palette an grundlegenden Kompetenzen. Viele von diesen Kompetenzen trainieren Geisteswissenschaftler*innen schon ab ihrem Grundstudium. Naheliegend sind etwa Informationsrecherche oder Quellenkritik, aber auch Selbstorganisation und kreative Lösungsfindung in nicht-determinierten Systemen –trendiger ausgedrückt: V.U.C.A.-Welt – gehören dazu. Wieso bringen wir diese wertvollen Erfahrungen nicht beherzter in die Gesamtgesellschaft ein? Müssen wir uns tatsächlich vorwerfen lassen, dass wir nicht darüber hinaus kamen, unsere kühnen Gesellschaftsentwürfe bei billigem Rotwein nächtelang in studentischen Altbau-WGs zu diskutieren? Hinderte uns die Angst, ein nicht bis zur letzten Fussnote perfekt ausgereiftes Weltmodell präsentieren zu können, überhaupt einen Finger zu rühren, während Sie, Herr Zuckerberg, Ihre möglicherweise viel weniger ausgereiften Ideen kühl in Code-Zeilen übersetzten und damit die Welt in Rekordzeit eroberten?

Müssen wir uns tatsächlich vorwerfen lassen, dass wir nicht darüber hinaus kamen, unsere kühnen Gesellschaftsentwürfe bei billigem Rotwein nächtelang in studentischen Altbau-WGs zu diskutieren?

Diesen Vorwurf müssen wir tatsächlich nicht komplett auf uns sitzen lassen, auch bei den Geistes- und Kulturwissenschaften wird fleissig digitalisiert. Und zwar im ursprünglichen Wortsinn: Man transferiert emsig Dokumente in Datenbanken. Erstmal etwas Papier sortieren, pardon «Materialsicherung», muss ja wohl erlaubt sein. Natürlich bietet diese Digitalisierung einen immensen Nutzen: Es ist grossartig, eben mal kurz in den knapp 100'000 Seiten Nuntiaturberichten von Eugenio Pacelli – später besser bekannt als Papst Pius der XII. –nachschauen zu können, was er denn von den goldenen 1920ern in Berlin hielt (Spoiler: nichts, ihm, der das Menuett für die einzig sittliche Form des Paartanzes hielt, war der Tango viel zu frivol). Wofür heute ein Klick reicht, hätte man früher Jahre mühsamer Arbeit gebraucht. Aber gerade visionär ist das nicht. Als solide Basis der Forschung sind diese schön neudeutsch «Digital Humanities» genannten Hilfswissenschaften zweifellos unverzichtbar – aber um der Gesellschaft den Nutzen (oder anders gesagt: den Anspruch auf Fördergelder) der Geisteswissenschaften zu zeigen, reicht das nicht.

Ebensowenig der schon fast flehentliche Hinweis darauf, was Computer alles nicht können und nie können werden (dürfen). Die hohe Kunst der Hermeneutik etwa muss einfach in Menschenhand bleiben, sonst sehen sich viele Fahnenträger des humanistischen Bildungsideals in ihrer Existenz bedroht. Doch zu Maschinenstürmern zu werden – sei es aus Angst vor der Irrelevanz, sei es aus Angst vor Veränderungen ganz allgemein – scheint mir keine attraktive Zukunftsperspektive. 

Was würden Sie also unserer Zunft raten, Herr Zuckerberg? Als jemand, der dem (Firmen-)Motto «Move fast and Break Things» frönte (zumindest bis Facebook ein paar zu grosse Dinge zerbach – nicht zuletzt das Vertrauen vieler Nutzer*innen) würden Sie vielleicht am liebsten gleich mit der Tür ins Haus fallen und fordern, dass die Geisteswissenschaftler*innen endlich ihre Faulheit und Feigheit aufgeben und sich aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien sollen. Zwar ist auch der Begriff der «Digitalkompetenz» noch vage besetzt: «Programmieren können» greift eindeutig zu kurz. «XML lernen» erst recht. Die Idee, «Sozioinformatiker*innen» auszubilden, wie es die Technische Uni Kaiserslautern seit einigen Jahren tut, geht da schon einen vielversprechenderen Weg hin zu mehr digitaler Mündigkeit. Klar ist aber momentan vor allem: Wir müssen uns digitale Kompetenzen aneignen, während wir sie definieren. Ein kleines Zugeständnis an den Zeitgeist braucht es nämlich schon: «Agilität» ist zwar mittlerweile ein so beliebtes Buzzword, dass der Begriff völlig sinnfrei zu werden droht. Dennoch können wir nicht erwarten, dass die ganze Welt wartet, bis wir alles tiefgründig zu Ende gedacht haben: Manchmal sollten wir den Takt, den technologische und gesellschaftliche Entwicklungen vorgeben, halten. Ebenso wie wir manchmal ebenso klar und deutlich auf eine Bremse stehen und lösungsorientierte Reflexionsräume fordern sollten, wenn der Zug des «Fortschritts» allzu euphorisch voranrollt.

Das klingt nicht nur anspruchsvoll – das ist es auch. Vielleicht möchten Sie der häufig zaudernden Zunft der Geisteswissenschaftler daher auch zurufen: «Habt Mut, euch mit eurem Verstand zu positionieren!» Denn von dem, was die jetztfixierte Zunft der Techapostel zu wenig hat – Horizont – besitzen die analysewütigen Geisteswissenschaftler*innen eher zu viel. Dabei brauchen wir dringend einen konstruktiven (!) Kontrapunkt zum häufig geradezu fatalistisch wirkenden Diskurs zum Digitalen Wandel. Auch wenn dieser Kontrapunkt dann vielleicht noch nicht so ausgereift ist - weiter entwickeln kann und muss man den im Dialog über alle Disziplinen hinweg. Da müssen wir aktiver werden. Denn noch immer geht unter, dass wir für eine erfolgreiche «Digitalisierung» vor allem am kulturellen Wandel aktiv arbeiten müssen. Daran ändern auch die verbreiteten Lippenbekenntnisse von CEO-Podien herunter nichts, dass «der Mensch immer im Zentrum» stehe und «Kultur jede Strategie zum Frühstück» esse (wie wir ja längst von Peter Drucker wissen). Wer nun könnte besser helfen, den Menschen in den angemessenen Fokus zu rücken als die Vertreter*innen der humanistischen Geistes- und Kulturwissenschaften? 

Jetzt müssten diese nur noch aufwachen aus ihrem Schlaf der Vernunft, damit die Technokraten nicht mehr allzu viele Monster gebären.

Optimistische Grüsse

Chris Bühler

Dies ist eine Open-Access-Publikation, lizenziert unter der Lizenz CreativeCommons Attribution (http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/).

Das Bild zur Traumdeutung:

Autor: Chris Bühler

Chris Bühler (https://chrisbuehler.ch) ist lizenzierter Digitalisierungsethiker mit einem Hackerherz. Beruflich ebenso wie privat denkt, diskutiert und berät er mit Vorliebe rund um Themen wie Digitalkompetenz, neue Formen von Kommunikation und Zusammenarbeit, sowie Gesellschaft im digitalen Wandel.