Details

Wege zu einem nachhaltigen Konsum in der Schweiz

Nachhaltigkeit

Die SAGW stellt in dieser Publikation verschiedene Ansätze und Ideen für einen nachhaltigen Konsum in der Schweiz vor.

Der Sammelband «Wege zu einem nachhaltigen Konsum | Vers une consommation durable» zeigt wichtige Beiträge der Geistes- und Sozialwissenschaften zur Bewältigung dieser Herausforderung für unsere Lebensqualität und unseren Wohlstand genauer auf.

Zu hoher Konsum in der Schweiz

Seit 2021 zählt der Bundesrat das Ziel «nachhaltiger Konsum- und Produktion» (SDG 12) zu den drei Schwerpunkten der Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030. Denn es ist klar: Der Konsum in der Schweiz ist zu hoch und nicht nachhaltig. Wie in vielen anderen westlichen Ländern mangelt es zwar nicht an guten Absichten, konkrete Massnahmen werden dagegen nur zögerlich ergriffen. Kurz gesagt stecken wir in einer Sackgasse: Nachhaltigkeit ja, Einschränkungen nein. Das Narrativ des Wohlstands und guten Lebens dank Wachstum hält sich hartnäckig und hat im Streben nach grünem Wachstum (Green Growth) neue Attraktivität gewonnen.

Der Länderbericht der Schweiz 2022 über die Umsetzung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen stellt fest, dass technologische Innovationen in den letzten zwanzig Jahren zwar zu Effizienzgewinnen geführt haben, diese aber klar nicht ausreichen, um das Ziel für nachhaltige Entwicklung (SDG) 12 zu erreichen.

Die Schlüsselrolle der Geistes- und Sozialwissenschaften

2021 erklärte die Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) «nachhaltigen Konsum» zu einem ihrer zentralen Themen und verknüpfte so den Schwerpunkt «nachhaltige Entwicklung» der Akademien der Wissenschaften Schweiz mit den Vorgaben des Bundes.

Der nun veröffentlichte Sammelband enthält 20 Beiträge aus dem gesamten Spektrum der Geistes- und Sozialwissenschaften – von der Umwelt-, Wirtschafts- und Rechtswissenschaft über die Soziologie und Philosophie bis hin zur Kulturwissenschaft und Geschichte.

In der Einleitung weisen die Philosophin Antonietta Di Giulio und die Konsumsoziologin Marlyne Sahakian darauf hin, dass das Problem des (nicht) nachhaltigen Konsums noch immer unterschätzt wird: «Konsum und Nachhaltigkeit sind vage Begriffe, die es zunächst genauer zu definieren gilt. In jedem Prozess ist es ein guter Anfang zu klären, was wir mit ‹nachhaltigem Konsum› meinen, da unser Verständnis auf unterschiedlichen Bedeutungen und Ontologien beruht. Daher braucht es zudem eine normative Vereinbarung, die festschreibt, welche Ziele wir erreichen wollen.»

Darüber hinaus fordern die beiden Forscherinnen die Entwicklung besserer Instrumente, um die Konsumdynamik – mit einem besonderen Augenmerk auf Aktivitäten des täglichen Lebens und auf die Bedeutung, die wir unseren Konsumhandlungen beimessen – genauer und systematischer zu verstehen.

Die Schweiz hat bereits einiges in die Förderung nachhaltigerer Produktionssysteme investiert. Doch Massnahmen zum Konsum, so Sahakian und Di Giulio, beschränken sich bisher weitgehend auf die Informationsverbesserung und auf die Aufforderung an die Verbraucher·innen ihr Kaufverhalten zu überdenken. Die Autor·innen dieses Buches sind sich einig, dass Konsum nicht auf einzelne Handlungen und auf Handlungen von Einzelpersonen reduziert werden kann, sondern im Zusammenhang sozialer und ökonomischer Werte, Systeme und Mechanismen verstanden werden muss.

Wissen für nachhaltigen Konsum

Die Publikation hat zum Ziel, die Schlüsselrolle der Geistes- und Sozialwissenschaften bei der Transformation hin zu einem nachhaltigen Konsum aufzuzeigen. Ferner soll sie Forschende, die sich mit diesem Thema befassen, zusammenbringen und den Dialog zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik im Sinne einer nachhaltigen Zukunft fördern.

Das Thema nachhaltiger Konsum wird seit Ende der 1990er-Jahre als Forschungsgebiet der Geistes- und Sozialwissenschaften zunehmend vertieft. Das aus dieser Forschungsarbeit gewonnene Wissen lässt sich in drei Kategorien gliedern:

  • Systemwissen
  • Zielwissen
  • Transformationswissen

Technologische Innovationen sind lediglich ein Teil des Auswegs aus der gegenwärtigen Krise. Sie führen nur zu Lösungen, wenn auch das menschliche Verhalten verstanden wird. Die Geistes- und Sozialwissenschaften können den gesellschaftlichen Dialog unterstützen und zur sinnvollen Priorisierung und Umsetzungsplanung technologischer Lösungen beitragen. Sie sind jedoch nicht bloss Unterstützungswissenschaften, die die gesellschaftliche Akzeptanz und somit die Implementierung von technologischer Innovation fördern. Mit ihrem Reflexionsvermögen und dem daraus resultierenden Orientierungs- und Zielwissen können sie vielmehr Grundlagenwissen für Änderungsinterventionen liefern und zum Wandel von Lebensstilen und Mentalitäten beitragen.

Diese Publikation bietet einen Fundus an Ideen, wie das Problem analysiert und die Herausforderungen im Bereich des Konsums definiert werden können. Sie konzentriert sich auf vier Themenbereiche, für die der Mehrwert der Forschung in den Geistes- und Sozialwissenschaften besonders relevant ist:

1. Wohlbefinden, Lebensqualität und sozialer Wandel

Mehrere Beiträge befassen sich mit der Idee der Suffizienz. Der normative Ansatz der Suffizienz beschäftigt sich damit, wie wir nachhaltigen Konsum realisieren und gleichzeitig die menschlichen Grundbedürfnisse berücksichtigen können. Standen in der Vergangenheit eher die ökologische Dimension der Nachhaltigkeit und die Konsummuster im Vordergrund, so widmet sich die Forschung heute zunehmend auch der Frage, was ein gutes Leben ausmacht. Das Konzept der Konsum-Korridore betrachtet beispielsweise die Transformation ausgehend von minimalen und maximalen Standards des Konsums, die die Bevölkerung benötigt, um in Zukunft ihre Bedürfnisse erfüllen zu können. Bei Überlegungen zu Lebensqualität muss demnach auch die Frage der intergenerationalen Gerechtigkeit berücksichtigt werden.

Die Beiträge machen auch darauf aufmerksam, dass nachhaltiger Konsum nicht auf ein soziales Distinktionsmerkmal und auf die Einzelverantwortung reduziert werden soll. Stattdessen müssen wir die Nachhaltigkeitstransformation und den damit verbundenen sozialen Wandel mit einem systemischen Ansatz reflektieren, und zwar von der Produktion bis zum Konsum. «Die Autorinnen und Autoren dieses Werks stimmen darin überein, dass Konsum nicht auf einzelne Aktionen beschränkt werden kann, sondern im Zusammenhang mit grösseren Dynamiken und Strukturen zu verstehen ist. Dazu zählen auch gesellschaftliche und ökonomische Werte und Mechanismen», stellen Marlyne Sahakian und Antonietta Di Giulio in ihrer Einleitung fest.

2. Marktdynamik und rechtliche Aspekte

Forschung zu nachhaltigem Konsum führt unweigerlich zu Fragen über das Wirtschaftssystem und dessen rechtliche Rahmenbedingungen. In einem demokratischen System kann Nachhaltigkeit nicht von oben nach unten diktiert werden. Deshalb muss die Frage der Regierungsführung und wie nachhaltiger Konsum in Bezug auf die demokratische Legitimität definiert werden kann und sollte, Teil einer eingehenden Reflexion sein.

In der Schweiz ist der rechtliche Rahmen weitergehend klar. Die Rechtsprofessorin Anne-Christine Favre ist der Ansicht, dass er bereits jetzt ausreichen würde, um gewisse Entscheidungen zu ermöglichen, die den Übergang zu einer nachhaltigen Gesellschaft beschleunigen, sowohl was den Erhalt der Biokapazität angeht als auch das in der Verfassung vorgesehene Grundrecht auf Leben.

Anhand eines systemischen Ansatzes in der Wirtschaft lassen sich neue Instrumente und Paradigmen entwickeln. Als Beispiel ist hier das von Sophie Swaton erläuterte Einkommen für den ökologischen Wandel (revenu de transition écologique) zu nennen, das konzipiert wurde, um den Übergang von nicht nachhaltigen Produktions- und Konsumformen auf nachhaltigere Lösungen zu erleichtern. Beim Übergang und der Transformation sind ein starkes Engagement und die Einbindung aller Wirtschaftsakteure für den künftigen Wohlstand unverzichtbar. Sowohl der Staat als auch KMU und Privatpersonen müssen die Handlungsebenen verstehen und priorisieren, wozu die öffentliche Debatte beitragen kann.
Die Umstellung der Konsumkultur auf nachhaltige Lebensstile ist eine grosse Herausforderung. Auch die Bedeutung des kulturellen Kontextes wird hinterfragt, insbesondere die Verantwortung des Marketings als Einflussfaktor für (nicht) nachhaltigen Konsum. Die modernen Marketingmethoden bieten zwar gewisse Möglichkeiten, reichen aber allein nicht aus, um eine nachhaltige Konsumkultur zu verwirklichen.

3. Methodologie: inter- und transdisziplinäre Perspektiven

Dieser Teil der Publikation fasst verschiedene Auffassungen zusammen, wie die Forschung zur Transformation des Konsums erfolgen soll. Die Geistes- und Sozialwissenschaften sind in der Lage, geeignete Lösungsansätze für komplexe Probleme der Gesellschaft durch inter- und transdisziplinäre Kooperationen zu untersuchen und zu erforschen.

In Reallaboren (auf Englisch Real Labs oder Living Labs) arbeiten diverse Akteurinnen und Akteure gemeinsam an Experimentierformen, die Ideen und neue Ansätze für einen nachhaltigen Konsum hervorbringen können.

Ein Beitrag schildert die transdisziplinäre Forschung der Berner Fachhochschule (BFH) im «Urbanen Dorf Webergut, Zollikofen». Das Projekt wird durch das Förderprogramm Nachhaltige Entwicklung des Bundes unterstützt und befasst sich mit der Umgestaltung eines Bürogebäudes in einen gemeinschaftlichen Wohnort unter Anwendung des Konzepts der Konsum-Korridore. Die künftigen Bewohnerinnen und Bewohner beteiligen sich dabei wesentlich an Lösungsfindungen und Entscheidungen. Es werden Methoden aus den Sozial- und Naturwissenschaften genutzt, um zu erproben und zu beurteilen, wie ein gutes Leben innerhalb der planetaren Grenzen aussehen kann (SDGs 3, 10, 11, 12). In Arbeitsgruppen entwickeln die Beteiligten Planungsmöglichkeiten für sozial gerechte Konsumformen, die sich innerhalb bestimmter Grenzen bewegen.

4. Narrative und Storytelling

Damit Systeme verändert werden können, müssen auch die vorherrschenden Narrative reflektiert werden. Die Wirkmacht von Narrativen zu analysieren und umzuschreiben, ist ein wichtiges Anliegen, ebenso wie die Frage nach dem Potenzial der verschiedenen Formen des Erzählens, welche die Narrative prägen.

Die Beiträge in diesem Teil führen vor allem Erzählformen aus dem Theater und der Literatur an, die Leser·innen und Zuschauer·innen emotional stark ansprechen. In Theaterstücken wie «Lungs» von Duncan Macmillan oder dem interaktiven Improvisationstheater «Helvetia2050», wird das Publikum aufgefordert, sich auf starke und eindrucksvolle emotionale Erlebnisse einzulassen, etwa durch intime Dialoge der Protagonist·innen oder indem man Entscheidungen auf der Bühne beeinflussen kann, um die Erzählung mitzugestalten. Aus diesen Emotionen können Arten von Wissen und Fertigkeiten entstehen, die eine Transformation begünstigen.

Die Konsumkultur und ein materielles Verständnis von Lebensqualität ist intrinsisch mit der Geschichte der Nachkriegszeit verbunden, als fossile Energieträger reichlich verfügbar und billig waren. Der Blick auf historische Ereignisse und Dynamiken, insbesondere aus der Zeit nach der industriellen Revolution, hilft uns, unsere heutige Lage besser zu verstehen und uns von bestimmten Narrativen loszusagen. Konsummuster sind immer Früchte der Diskurse und Vorstellungen ihrer jeweiligen Epoche. Agnieszka Soltysik Monnet drückt es in ihrem Beitrag folgendermassen aus: «Glücklicherweise können Erzählungen durch andere Erzählungen ersetzt werden, sofern sie überzeugend genug sind. So werden Literatur und Fiktion zu mächtigen Werkzeugen, die ein ökologisches Verständnis und massgebliche Veränderungen vorantreiben.»

Download einzelne Beiträge

Bibliografische Angaben und Open Access

Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (2023) : Wege zu einem nachhaltigen Konsum | Vers une consommation durable (Swiss Academies Communications, 18,5). https://doi.org/10.5281/zenodo.8135855

Die Publikation kann hier als Printversion bestellt werden.

Die Publikation ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz – CC BY 4.0. Seine Inhalte dürfen demnach uneingeschränkt und in allen Formen genutzt, geteilt und wiedergegeben werden, solange der Urheber und die Quelle angemessen angegeben werden. Das Verwertungsrecht bleibt bei den Autorinnen und Autoren der Artikel. Sie gewähren Dritten das Recht, den Artikel gemäss der Creative-Commons-Lizenzvereinbarung zu verwenden, zu reproduzieren und weiterzugeben.