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Rückwärtsgewandt nach vorne! Der Angriff auf die Istanbul-Konvention.

Leandra Bias, swisspeace
Recht und Politik

Körper und Verkörperung sind zentrale Elemente der feministischen Analyse internationaler Politik. Wie nötig diese ist, zeigt die bedauerliche türkische Absage an die Istanbul-Konvention.

Unvereinbar mit den «sozialen und familiären Werten» der Türkei, «gekapert von einer Lobby-Gruppe», die heimlich die Homosexualität normalisieren wolle. So lauteten die Gründe für den Rückzug aus der Istanbul-Konvention, den Erdogan Mitte März per Dekret beschloss.

Was kurz Istanbul-Konvention genannt wird, ist ein Meilenstein der feministischen Geschichte. Es handelt sich um ein Übereinkommen des Europarats «zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt». Die Konvention trat 2014 in Kraft und verpflichtet die unterzeichnenden Länder erstmals, umfassende Massnahmen zur direkten Gewaltprävention sowie für die Gleichstellung zu ergreifen. Die Logik: Gleichstellung der Geschlechter ist das beste Vorbeugeprinzip gegen geschlechtsspezifische Gewalt.

Die Logik: Gleichstellung der Geschlechter ist das beste Vorbeugeprinzip gegen geschlechtsspezifische Gewalt.

Genau dieser normative Konsens zerbröckelt gerade vor unseren Augen, und zwar nicht zufällig, sondern angeführt von einer transnational vernetzen illiberalen Allianz.

Die hysterische Reaktion fusst insbesondere darauf, dass das Übereinkommen zwischen biologischem und sozialem Geschlecht unterscheidet und Geschlechterrollen als gesellschaftlich gemacht definiert. Die Konvention möchte an den nach wie vor höher gewerteten Rollen für Männer ansetzen, weil diese Überlegenheit zementieren und den Nährboden für ihre gewaltvolle Durchsetzung bilden. Oder lapidarer ausgedrückt: im jetzigen Weltbild ist eine ebenbürtige Frau noch immer ein Affront.

«Wir versus die Anderen»-Rhetorik gegen Gleichstellung

Ein solch grundlegender Ansatz geht für Erdogan und die konservativen und religiösen Kreise um ihn aber zu weit. Aus diesem Grund annullierte er die Unterzeichnung der Türkei und sieht vor, eine Ankara-Konvention vorzulegen, die auf «einheimischen Traditionen und Bräuchen» beruhen soll. Mit anderen Worten eine Alternative, welche die vermeintlich naturgegebene Hierarchie zwischen den Geschlechtern, sprich das Patriarchat, eben nicht infrage stellen wird. Dafür steht «einheimisch» und macht im Umkehrschluss die Istanbul-Konvention und die Bestrebung für Gleichstellung zur Verkörperung des «Fremden», «Westlichen».

Polen nutzte die Gelegenheit, um die Idee einer «Warschauer Konvention» aufs internationale Parkett zu bringen. Das Investigativ-Netzwerk BIRN hat herausgefunden, dass diese Konvention «spezielle Unterstützung» für den Schutz eines Kindes ab dem Zeitpunkt der Zeugung vorsieht und die Ehe bewusst als ausschliesslichen Bund zwischen Mann und Frau definiert. Polen zielt also darauf ab, Abtreibungen wieder zu verbieten und die Ehe für alle abzuschaffen, beziehungsweise dort, wo sie noch nicht existiert, zu verunmöglichen.

Gender-Ideologie als gemeinsamer Kampfbegriff

Gemäss BIRN wurden erste Entwürfe des polnischen Vorhabens letztes Jahr an mindestens vier Regierungen geschickt: Tschechien, Slowakei, Slowenien und Kroatien. Dazu ist wichtig zu wissen, dass die EU die Istanbul-Konvention bisher nicht ratifizieren konnte, weil sie in den EU-Mitgliedstaaten Bulgarien, Ungarn und Tschechien trotz Unterschrift noch nicht rechtskräftig ist.

Wenn die Abgeordnete der polnischen Regierungspartei Jadwiga Emilewicz sagt, «vielleicht bestünde die Möglichkeit einer Allianz [mit der Türkei], um gemeinsam die Istanbul-Konvention neu zu definieren und die Warschau-Konvention zu etablieren», muss dies vor dem Hintergrund eines sich klar abzeichnenden Widerstandes im Osten und Süden Europas gegen die progressive Istanbul-Konvektion gelesen werden. Weder Polen noch die Türkei sind in ihrer Attacke isoliert, sondern können auf breite Unterstützung bauen.

Was sie alle eint, ist das Feindbild der «Gender-Ideologie». Der Begriff dient als Kampfbegriff und wird selten wirklich definiert, bezieht sich aber im Grunde immer auf das Gleiche: den feministischen Anspruch, das patriarchale und heteronormative Korsett zu sprengen, welches Menschen und ihre Beziehungen zueinander allein basierend auf körperlichen Merkmalen organisiert. Dieser Anspruch wird als radikale Ideologie ohne jegliche wissenschaftliche Basis delegitimiert. Die «Gender-Ideologie» sei es, welche traditionelle Werte und insbesondere die Kernfamilie schwäche, denn sie führe zu exzessiven Abtreibungen, Scheidungen und eben Homosexualität.

Moralische Landesverteidigung als Legitimation

Feministische Wissenschaftler*innen1 haben schon lange aufgezeigt, dass Frauen nicht nur stellvertretend für die Ehre der Familie stehen. Frauen verkörpern immer auch die gesamte Nation. Ihnen kommt die Aufgabe zu, die eigene Gemeinschaft zu erhalten (während Männer sie verteidigen). Die strikt duale, biologische Verwaltung unserer Gesellschaft gipfelt darin, dass alle, die dieser Teilung nicht entsprechen – sei es durch ihr Verhalten, ihre Identität oder ihre Sexualität – bestraft werden. So wird das reproduktive Kapital gesichert. Der Feminismus stellt diese Verwaltung infrage und wird darum zur Gefahr für den demografischen Erhalt der Nation stilisiert.

Die Geschlechtergerechtigkeit ist also mal pauschal «westlich», mal in einem pervertierten Westeuropa verortet.

Die Reaktion lautet: Angriff auf das Recht auf Abtreibung und die gleichgeschlechtliche Ehe im Namen der moralischen Landesverteidigung. Die Türkei trat aus dem Abkommen aus, um ihre «eigenen Werte» vor Verwestlichung zu schützen. Polen möchte wiederum austreten, um westliche Werte «wie sie ursprünglich gedacht waren» zu erhalten. Die Geschlechtergerechtigkeit ist also mal pauschal «westlich», mal in einem pervertierten Westeuropa verortet. In jedem Fall aber kommt die Idee von ausserhalb der Landesgrenzen und wird deshalb zu einer Bedrohung erklärt, die jede Abwehr rechtfertigt. So wird Gender nicht nur zum «symbolischen Kitt» für verschiedenste konservative Kräfte, sondern vor allem auch zur Abkürzung für eine Absage an die gesamte freiheitsrechtliche Weltordnung.

Finanzkräftige Allianz gegen «Gender-Ideologie»

Die Verfechter dieses Rückschritts verbindet nebst dem Kampfbegriff der Gender-Ideologie und der Zielscheibe der Istanbul-Konvention auch gemeinsame Finanzierungsquellen. Das feministische Investigativ-Projekt «Tracking the Backlash» hat aufgedeckt, dass christliche Organisationen aus den USA seit 2007 über 280 Millionen Dollar in den Rückschlag investierten. Der grösste Anteil davon (88 Millionen) floss nach Europa und diente insbesondere der Deckung von Verfahrenskosten für Ärzt*innen, die Abtreibungen verwehren. Wenn man dazu bedenkt, dass 99 Prozent aller Stiftungsgelder und der offiziellen Entwicklungshilfe nicht an Frauen- oder feministische Organisationen fliesst, wird das finanzielle Machtgefälle klar.

Eine feministische Analyse des Weltgeschehens bedeutet, Geschlecht als integralen Bestandteil der internationalen Politik wahrzunehmen.

In seiner letzten Konsequenz hat dieser transnational vernetzte Rückschlag fatale Folgen für einzelne Köper. Frauen wird zusehends die eigenmächtige Kontrolle über ihre Gebärfähigkeit entrissen, während Gewalt gegen Menschen der LGBTQI+-Gemeinschaft zunimmt und feministische Akteur*innen gezielt verfolgt und unterdrückt werden (u.a. in Europa, Frankreich, USA).

Eine feministische Analyse des Weltgeschehens bedeutet nicht, Geschlecht einfach zur existierenden staatszentrierten Perspektive hinzuzumischen, sondern es als integralen Bestandteil der internationalen Politik wahrzunehmen: es bestimmt Individuen, Gemeinschaften, Nationen und die Beziehungen all dieser Einheiten miteinander. Und eine feministische Analyse tut den derzeitigen Backlash nicht als zweitrangig ab, sondern erkennt ihn als fundamentale Bedrohung für das Bestehen unserer Demokratien und plädiert für eine Emanzipationsoffensive.

Backlash auch in der Schweiz

Der Backlash ist längst in der Schweiz angekommen. So hat eine Journalistin der Basler Zeitung aufgedeckt [paywall], dass man hierzulande neu Zugang zu einer höchst gefährlichen, unwissenschaftlichen Behandlung hat, die eine Abtreibung rückgängig machen soll – per Telefon, inklusive Rezept für über 50 Pillen. Diese Behandlung wird europaweit mit den oben erwähnten Geldquellen propagiert.

Die Schweiz hat die Istanbul-Konvention zwar 2017 ratifiziert, aber bei der Umsetzung harzt es. Seit Beschluss des Gleichstellungsgesetzes 1995 hat der Bundesrat diesen Frühling zum ersten Mal eine Strategie verabschiedet, wie er diese tatsächlich realisieren möchte. Darin ist Gewaltprävention einer von vier Pfeilern. Es wird erwähnt, dass auch endlich ein nationaler Aktionsplan zur Umsetzung für die Istanbul-Konvention entwickelt werden soll. Bundesweite Betreuungsangebote für Gewaltbetroffene, anständige Finanzierung für Frauenhäuser und Gleichstellungsbüros ist hierbei das absolute Minimum. Der Anspruch der Konvention ist jedoch transformativer: Sie versteht unter Prävention, dass «alle Praktiken, die auf der Idee der Unterlegenheit der Frauen oder auf stereotypen Rollen für Männer und Frauen beruhen», abgeschafft werden müssen. Dazu gehören mindestens ein zeitgemässes Sexualstraftrecht, dass auf der Zustimmung beruht, eine Sexualkunde, die keine moralisierenden Mythen verbreitet, und eine Elternzeit.

Nicht zuletzt bedarf es aussenpolitisch einem starken Engagement für das Prinzip der Gleichstellung in allen multilateralen Organisationen, vom Europarat bis zu den Vereinten Nationen. Dies insbesondere auch im Hinblick auf die Schweizer Kandidatur für den UNO-Sicherheitsrat. Denn soviel steht fest: Der beste Schutz für die liberale Weltordnung ist die Verteidigung und Stärkung dieses demokratischen Grundprinzips.

1 Referenzen

  • Yuval-Davis, N., 1997. Gender and Nation. Sage Publications, London
  • Enloe, C., 2014. Bananas, Beaches, and Bases: Making Feminist Sense of International Politics. University of California Press, Berkeley.
  • Žarkov, D., 2007. The Body of War: Media, Ethnicity, and Gender in the Break-Up of Yugoslavia. Duke University Press, Durham.
  • Eriksson Baaz, M., Stern, M., 2013. Sexual Violence as a Weapon of War? Perception, Prescriptions, Problems in the Congo and Beyond. Zed Books, London.

Die AutorIn: Dr. Leandra Bias

Leandra Bias ist promovierte Politologin. Ihre Dissertation schrieb sie zum Anti-Gender Rückschlag in autoritären Regimen mit Fokus auf das ehemals kommunistische Europa an der Universität Oxford. Bei der Schweizerischen Friedensstiftung swisspeace forscht sie an dieser Schnittstelle weiter und arbeitet zudem als Gender-Expertin. Sie lehrt ausserdem an der Universität Basel.

Bildquellen

Titelbild: ¡Ni Una Menos! // Buenos Aires 2016, Colores Mari on flickr (CC BY 2.0)

Open Access

Dies ist eine Open-Access-Publikation, lizenziert unter CreativeCommons CC BY-SA 4.0.

 

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