Förderung angewandter Forschung in den Geistes- und Sozialwissenschaften

Allgemeine Feststellung

1. Die Leitformel der KTI „Science to market“ ist zwar einprägsam, indes partiell irreführend bzw. zumindest nicht selbsterklärend, da auch der öffentliche Sektor Abnehmer, Nachfrager und Umsetzungspartner ist. Gerade in den Bereichen Soziale Arbeit, Bildung, Gesundheit, Tourismus und Verwaltung ist der öffentliche Sektor der wichtigste Partner.

  • Empfehlung: „Wording“ und Kommunikation überprüfen. Präziser wäre es von „Science to society“ zu sprechen.

2. Die aus der geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung fliessenden „Produkte“ sind in ihrer grossen Mehrheit nicht tangibel. Die Anwendungen erscheinen in Form von Konzepten, Methoden, Modellen, Prozeduren und Prozessen, die entweder „person to person“, eben als Dienstleistungen, erbracht werden oder als „Know-How“ allgemein verfügbar gemacht werden. Als Dienstleistungen sind sie im Unterschied zu Produkten an Ort, Zeit und Personen gebunden und lassen sich nicht in derselben Weise übertragen wie ein Produkt. Dies erfordert denn auch andere Diffusionsmechanismen. Überdies erfordert das veränderte Prozesswissen oftmals eine Veränderung des sozialen Systems, in welchem eine Dienstleistung erbracht wird, so dass der Implementierungsprozess als gesonderter Teil des Innovationsprozesses zu betrachten ist.

  • Empfehlung I: „Wording“ und Kommunikation überprüfen. Präziser wäre es, von Leistungen zu sprechen, ein Begriff, welcher Sachgüter, Dienstleistungen und Know-How abdeckt.
  • Empfehlung II: Ein wesentlicher Mechanismus zur Diffusion von geistes- und sozialwissenschaftlichen Leistungen ist die Publikation.
  • Empfehlung III: Eine klassische Form der Diffusion ist ferner die Weiterbildung. Es sollte daher möglich sein, die Entwicklung von Weitebildungsmodulen als Teil eines KTI-Projektes zu fördern.
  • Empfehlung IV: Geprüft werden müsste, ob die Implementierung mit einer Systemveränderung einhergeht, welche als Teil des Innovationsprozesses gesondert zu fördern wäre

3. In enger Verbindung mit den Punkten 1 und 2 steht die Frage nach einem angemessenen Nutzenbegriff: Ein mit dem Gewinn oder dem Preis in der Erwerbswirtschaft vergleichbares Erfolgskriterium existiert weder im öffentlichen Sektor, noch in jenen Fällen, wo Know-How in Form von Konzepten, Methoden, Modellen oder Prozeduren allgemein verfügbar gemacht wird. Zu überlegen wäre, im Sinne der Gemeinwirtschaft zwischen direktem und indirektem Nutzen sowie Beanspruchungs- und Gewährleistungsnutzen zu unterscheiden. Ebenso müssten verhinderte Kosten einbezogen werden. Schliesslich ist zu beachten, dass sich im öffentlichen Sektor getätigte Investitionen in ihrer Mehrheit nicht in Form von zusätzlichen (Geld-)mitteln, sondern in Form von verbesserten Lösungen auszahlen.

  • Empfehlung: Der erwerbswirtschaftliche Nutzenbegriff lässt sich nur bedingt auf die von den Geistes- und Sozialwissenschaften erbrachten Leistungen anwenden. Differenziertere Nutzenkonzepte finden sich in der Gemeinwirtschaftslehre. Grundsätzlich ist von der Frage auszugehen, ob mit der Leistung ein Bedarf abgedeckt wird, wobei sich dieser Bedarf im Falle des öffentlichen Sektors oder öffentlicher Güter nicht nur in Form einer Zahlungsbereitschaft anzeigt. Generell könnte in all diesen Fällen von einem „gesellschaftlichen Wert“ gesprochen werden.

4. Die für die KTI relevante Forschung ist zwei Referenzsystemen verpflichtet: dem Wissenschaftssystem und den Anwendern von den im Wissenschaftssystem gewonnenen Applikationen. Damit beide Systeme bedient werden können, ist die Möglichkeit der Publikation zwingend.

  • Empfehlung: Die Förderung von Publikationen ist zwingend (siehe auch Punkt 2)

5. Von Innovationen kann sinnvollerweise dann gesprochen werden, wenn neues Wissen zu neuen Applikationen führt. Im Wissenschaftssystem gewonnenes, neues Wissen ist zwingend zu publizieren.

  • Empfehlung: In Übereinstimmung mit den Punkten 2 und 4 sollten die Publikation von Ergebnissen bzw. deren angemessene Diffusion integraler Bestandteil der Innovationsförderung sein.

Wertschöpfende Funktionen der Geistes- und Sozialwissenschaften

1. Mit Blick auf die Genese von Innovationen und neuen Applikationen ist es sinnvoll, zwischen der Kritikfunktion, der Selbstbeschreibungsfunktion und der Leistungsfunktion der Geistes- und Sozialwissenschaften zu unterscheiden. Dabei ist zu beachten, dass die Produkt- oder Leistungsfunktion oftmals eine Folge der erstgenannten Funktionen ist.

  • Empfehlung: Die Kritik- und Selbstbeschreibungsfunktion ist in angemessener Form in die Förderung einzubeziehen.

2. Die Kritik- und Selbstbeschreibungsfunktion kann eigenständig in Form von verhinderten Kosten bzw. vermiedenen Fehlallokationen wertschöpfend sein.

  • Empfehlung I: Die sozialwissenschaftliche Prüfung von neuen Technologien oder Applikationen sollte als Förderbereich bedacht werden, namentlich bei Grosstechnologien.
  • Empfehlung II: Ein breiteres Verständnis der Wertschöpfungskette, welches die Kritik- und Selbstbeschreibungsfunktion einschliesst, empfiehlt sich.

3. Technische und soziale Innovationen gehen immer mehr Hand in Hand (Verschmelzung von Sachgütern und Dienstleistungen). Anstelle einer blossen, analysierenden und interpretierenden Begleitforschung sollten die Sozialwissenschaften in einem frühen Stadium der technologischen Entwicklung in ihrer gestaltenden Funktion einbezogen werden.

  • Empfehlung: Bei technologischen Entwicklungen sollten die Sozialwissenschaften frühzeitig zur Gestaltung dieser Entwicklungen einbezogen werden.

4. In engem Bezug zu Punkt 3 steht die noch kaum entwickelte und nicht systematisierte Dienstleistungsforschung (Service Enigneering). Die aus der Verschmelzung von Sachgütern und Dienstleistungen fliessende hybride Wertschöpfung birgt ein hohes Potenzial.

  • Empfehlung I: Zu prüfen ist, ob im Rahmen eines Sonderprogramms ein Startimpuls für die noch kaum existierende Dienstleistungsforschung gegeben werden sollte.
  • Empfehlung II: Bei der Entwicklung von neuen Sachgütern sollten damit einhergehende Dienstleistungen integraler Bestandteil des Innovationsprozesses sein.

Besondere Probleme der geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung

1. Bei den für die geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung wichtigen Partnern im öffentlichen Sektor fehlt oftmals die Zahlungsbereitschaft oder -fähigkeit. Dies liegt auch daran, dass die Anwender davon ausgehen können, dass die Erkenntnisse früher oder später als öffentliches Gut zur Verfügung stehen.

  • Empfehlung I: Hilfestellung der KTI bei der Akquisition von Umsetzungspartnern, beispielsweise in Form von verbindlichen Absichtserklärungen.
  • Empfehlung II: Die Ressourcen oder Leistungen von Hochschulen und anderen staatlichen Einrichtungen könnten in begründeten Fällen als Leistungen von Umsetzungspartnern angerechnet werden.

2. Die möglichen Innovationsbeiträge der Geistes- und Sozialwissenschaften müssen in den meisten Fällen interdisziplinär erarbeitet werden: Der Aufbau und die Umsetzung von interdisziplinären Projekten ist äusserst aufwändig.

  • Empfehlung: Zu prüfen sind KTI-Beiträge an die Projektplanung und –formulierung.

3. In Form von Konzepten, Methoden und Know-How erfolgt die Diffusion von geistes- und sozialwissenschaftlichen Innovationen sehr rasch. Entsprechend ist der Absender in den seltensten Fällen bekannt und die Innovation wird zu einem öffentlichen Gut. Beides führt zu einer generellen Unterschätzung des Wertes geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschung.

  • Empfehlung: Dieser Besonderheit muss bei der Einschätzung des Wertes geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschung über alle Phasen von der Eingabe bis zur Verwertung angemessen Rechnung getragen werden.

4. Die besonderen Projektformen (Discovery- und Machbarkeitsstudien) müssten im Hinblick auf Geistes- und Sozialwissenschaften überdacht werden, da in ihrem Feld zwischen der Grundlagenforschung und der Anwendung viele Zwischenstufen liegen und nicht immer absehbar ist, welche Form eine Innovation annimmt.

  • Empfehlung: Vorstudien oder Modellversuche, die es erlauben, eine Innovation unter realen Bedingungen zu testen, wären mögliche Formate, die dieser Besonderheit Rechnung tragen.

Besondere Probleme der universitären Forschung

1. Die Universitäten sind in geringerem Masse Träger von Handlungswissen als die Fachhochschulen.

2. Die Auftragsforschung hat im universitären Referenzsystem einen geringen Stellenwert, entsprechend fehlen die Anreize, sich zu beteiligen.

3. Die Universitäten sind disziplinär organisiert, Forschung und Lehre dienen der disziplinären Reproduktion und das Ziel ist es, auf internationalem Niveau mit der disziplinären Entwicklung Schritt zu halten.

4. Ein wichtiger Träger der Forschung sind die Promovierenden. Ihre Forschungsarbeit dient der akademischen Qualifikation.

  • Empfehlung I: Sinnvolle Kooperationsformen zwischen Fachhochschulen und Universitäten, welche den jeweiligen Stärken der beiden Forschungseinrichtungen Rechnung tragen, sind zu entwickeln.
  • Empfehlung II: Möglich wäre es auch, dass die Grundlagenarbeiten (Theorie, Machbarkeit, Vorstudien) durch den SNF finanziert werden und die Umsetzung durch die KTI. Wir denken auch an zu entwickelnde „joint projects“, bei welchen der SNF für die Grundlagenforschung und die KTI für die Umsetzung, inklusive Publikation, aufkämen. Diese Förderungsform würde zweifellos einen wesentlichen Beitrag zur Zusammenarbeit zwischen Universitäten und Fachhochschulen leisten.
  • Empfehlung III: Bekanntlich ist die Umsetzung der Ergebnisse aus NFP’s sowie NCCR’s oftmals sehr mangelhaft. Zu überlegen ist, ob nicht die KTI spezifische Umsetzungen, die aus solchen Projekten fliessen, finanzieren sollte.

Für die SAGW: Dr. Markus Zürcher / 28.5.2008