Anfang September publizierte die SAGW die Auftragsstudie «Erinnerung partizipativ gestalten». Welches Beispiel aus der Stadt Zürich kommt Ihnen da in den Sinn?
Ich habe etwas Mühe, darauf zu antworten. Zuerst stellt sich die Frage, was mit «Partizipation» gemeint ist: Mitentscheidung oder Mitgestaltung? Bei der Fachstelle Kunst im öffentlichen Raum befassen wir uns mit Kunstobjekten, die eine erinnerungskulturelle Komponente haben können. Im Kunstbereich verstehen wir unter Partizipation heute eine breite Mitwirkung, welche die Ideenfindung einschliesst, also eine Co-Kreation. In diesem Sinne ist mir in der Stadt Zürich kein partizipatives Denkmalprojekt bekannt.
Im Kunstbereich verstehen wir unter Partizipation heute eine breite Mitwirkung, welche die Ideenfindung einschliesst, also eine Co-Kreation
Verstehen wir Partizipation als Mitentscheidung der Zivilgesellschaft, fällt mir das Denkmal für Katharina von Zimmern ein, das 2004 errichtet wurde. Die Initiative kam von kirchlichen Organisationen, Frauenverbänden und rund 300 Einzelpersonen aus der Zivilgesellschaft. Sie sammelten das Geld für die Realisierung des Denkmals und übergaben es als Schenkung der Stadt. Die Spenden können als Zeichen für Unterstützung aus der Zivilgesellschaft gedeutet werden. Dennoch handelt es sich nicht um starke Partizipation oder Co-Kreation. Die Frage «An wen oder woran wollen wir erinnern?» war nämlich von Beginn an beantwortet. Konsequent partizipatorische Verfahren kommen generell selten vor. Das hat auch damit zu tun, dass sie aufwendig sind: Sie müssen begleitet werden, können lange dauern und sind ergebnisoffen. Letztendlich kann also auch nichts zustande kommen.
Was verstehen Sie unter «Zivilgesellschaft»? Wer genau soll partizipieren?
Wir verstehen darunter Personengruppen und Einzelpersonen aus der Bevölkerung, die keine marktwirtschaftlichen, parteipolitischen oder staatlichen Interessen vertreten. Das umfasst insbesondere Menschen, die keine institutionalisierte Stimme haben. In der Stadt Zürich verbringen viele Menschen Zeit im öffentlichen Raum, die nicht hier wohnen oder kein Stimmrecht haben. Interessant ist, dass die meisten Denkmäler in der Stadt Zürich bereits im 19. Jahrhundert aus zivilgesellschaftlichen Initiativen hervorgingen, wie eine Auftragsstudie des Historikers Georg Kreis zeigt. Personengruppen hatten eine Idee, sammelten Geld und übergaben das Denkmal meist im Rahmen einer öffentlichen Feier der Stadt, die höchstens gewisse Installationskosten trug.
Interessant ist, dass die meisten Denkmäler in der Stadt Zürich bereits im 19. Jahrhundert aus zivilgesellschaftlichen Initiativen hervorgingen
Es gab schon damals ein Bewusstsein dafür, dass transparente Prozesse wichtig sind – diese Denkmäler wurden auch öffentlich diskutiert und kritisiert. Allerdings appellierten die Initiatoren in erster Linie an das wohlhabende und etablierte Bürgertum. Von breiter Teilhabe oder gar Co-Kreation kann also nicht die Rede sein.
Erhalten Sie als Leiterin der Fachstelle «Kunst im öffentlichen Raum» viele Anfragen aus der Zivilgesellschaft, die auf Veränderungen an der Erinnerungskultur abzielen? Und wie geht die Stadt mit solchen Anfragen um?
Gruppierungen wie das Kollektiv «vo.da» trugen im Zusammenhang mit der «Black Lives Matter»-Bewegung Anliegen zu rassistischen Zeichen im öffentlichen Raum an die Verwaltung. Diese landeten jedoch nicht unbedingt bei unserer Fachstelle, weil es nicht um Kunstobjekte ging. Zugleich gab es Anfragen aus dem politischen Bereich, zum Beispiel von Gemeinderäten, die neue Denkmäler verlangten. Es standen also zwei Forderungen im Raum: neue Denkmäler erstellen und bestehende Denkmäler entfernen. Die Stadt hat aber nicht einmal eine rechtliche Grundlage, um neue Denkmäler aufzustellen. Auch Veränderungen an bestehenden Denkmälern müssen wir stets im Einzelfall prüfen. Zudem betreffen die Anliegen in der Regel verschiedene Teile der städtischen Verwaltung. Deshalb formten wir eine interdepartementale Koordinationsgruppe und entschieden, vorerst keine neuen Denkmäler zu errichten oder bestehende zu verändern. Die Stadt Zürich wählte damit ein anderes Vorgehen als beispielsweise die Städte Neuenburg oder Genf, die rasch Aktionen lancierten.
Warum hält sich die Stadt Zürich bei der Errichtung und Veränderung von Denkmälern zurück, trotz des politischen Drucks?
Es sind schlicht noch zu viele Fragen offen. Was ist Erinnerungskultur heute? Welchen Platz nehmen Denkmäler darin ein? Auch raumplanerische Aspekte müssen mitbedacht werden, denn der öffentliche Raum ist keine Freiluftgalerie. Denkmäler, die zugleich Kunstobjekte sind, sollen einen räumlichen Bezug herstellen – ob historischer, inhaltlicher oder architektonischer Art. Ebenfalls wichtig ist die Frage der künstlerischen Umsetzung. Viele der heutigen Denkmäler wie jene für Alfred Escher, Heinrich Pestalozzi oder Hans Waldmann stammen aus dem 19. Jahrhundert und sind figürlich dargestellt. Das war damals der Normalfall, da die Abstraktion in der Kunst erst später einsetzte. Heute haben jedoch viele dieser Statuen ihre Erinnerungsfunktion verloren, weil die Menschen nicht mehr wissen, wen sie darstellen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Escher-Statue: Räumlich versinkt sie inmitten von Trams und Bussen. Viele Menschen erkennen ihn nicht mehr oder halten in gar für Karl Marx. Zudem rücken Verdienstdenkmäler die individuelle Leistung einzelner Personen in den Vordergrund und symbolisieren gewissermassen die Leistungsgesellschaft. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Aspekte bei Forderungen nach neuen figürlichen Denkmälern konsequent mitbedacht werden.
Der öffentliche Raum ist keine Freiluftgalerie
Aus unserer Sicht sollte Teilhabe über akute Problemstellungen und einzelne Objekte hinausgehen. Das Ziel ist eine selbstermächtigte Zivilgesellschaft, die sich aufgeklärt mit der Gestaltung und Vermittlung von Erinnerung auseinandersetzt. Wie wir dorthin kommen, ist noch völlig unklar und geht weit über den Umgang mit Denkmälern hinaus. Deshalb erstellt die Stadt derzeit eine umfassende Auslegeordnung für die anschliessende Erarbeitung eines Konzepts zur Erinnerungskultur im öffentlichen Raum, wovon der Umgang mit Denkmälern ein Teil ist.
Die Auswertungen der Studie zeigen, dass die Unterstützung der Behörden für Teilhabe-Projekte stark variieren kann. Besonders gute Chancen auf Unterstützung hätten Initiativen, die den «lokalpolitischen Nerv der Zeit» treffen und eine «lokale Umsetzung» anstreben. Stimmt das auch für die Stadt Zürich? Wie erklären Sie sich diese Unterschiede?
Die Stadt Zürich prüft grundsätzlich jede Anfrage für Kunstobjekte im öffentlichen Raum, ob mit oder ohne Erinnerungskomponente. Eine Anbindung an die Politik kann zwar die Prüfung eines Gesuches beschleunigen, wenn zum Beispiel ein Gemeinderat einen Vorstoss einreicht. Das heisst aber nicht, dass die Antwort eher positiv ausfällt. Die Studie führt das Beispiel der Stolpersteine in Zürich auf, bei dem die Initiator·innen sagen, ihnen seien lange behördliche Wege oft erspart geblieben. Natürlich spielt die politische Aktualität eine Rolle. Hier scheint mir aber fast wichtiger, dass die Stolpersteine einfach realisierbar und unauffällig sind. Sie benötigen keine Baubewilligung, nur eine Konzession für die Nutzung des öffentlichen Raums. Zudem sind sie günstig und der Verein dahinter trägt die Kosten. Bei einem Denkmal, das viel Platz einnimmt und teuer in der Realisierung und im Unterhalt ist, muss die Verwaltung vorsichtiger sein.
Die Studie sieht die Rolle der Verwaltung vor allem darin, inhaltliche, operative und finanzielle Unterstützung zu leisten, zum Beispiel durch die Gründung von Bürgerräten oder -foren, die breite Beteiligung erlauben. Wie sähe eine ideale Rollenteilung zwischen Verwaltung, Politik und Zivilgesellschaft bei der Gestaltung von Erinnerungskultur aus?
Das ist genau eine der Fragen, mit der wir uns bei der aktuellen Reflexion auseinandersetzen. Final beantworten kann ich sie daher noch nicht. Wir denken jedoch eher an eine passive Rolle der Verwaltung, die partizipatorische Verfahren begleitet, moderiert und darin vermittelt, jedoch nur begrenzt finanziell unterstützt. Andererseits muss die Stadt irgendwann aktiv entscheiden, dass beispielsweise ein Denkmal im öffentlichen Raum aufgestellt wird. Damit wird sie auch für den Unterhalt verantwortlich. Für uns ist klar, dass die inhaltlichen Anstösse und das Bedürfnis aus der Zivilgesellschaft kommen müssen.
Eine zunehmend beliebte Lösung für den Umgang mit kontroversen Denkmälern scheint das Anbringen von QR-Codes, um diese zu kontextualisieren. Meist führen die Codes zu biografischen Informationen. Ist damit erinnerungskulturelle Teilhabe realisiert?
Ich finde die derzeitige Diskussion um Kontextualisierung etwas problematisch, ob digital oder physisch. Wählt die öffentliche Verwaltung die Kontextinformationen aus, reisst sie die Deutungshoheit dafür an sich, was gültig und wichtig ist. Der Fokus auf die Biografie der dargestellten Personen vernachlässigt zudem die Tatsache, dass Denkmäler eine eigene Geschichte haben: Wer wollte, dass eine Waldmann-Statue aufgestellt wird? Warum an jenem Ort und weshalb auf diese Art und Weise dargestellt? Denkmäler repräsentieren nicht die Geschichte, sondern sind Teil davon. Das geht in der heutigen Diskussion oft vergessen. Ich denke, wir können viel lernen, wenn wir uns mit der Werkgenese von Denkmälern auseinandersetzen. In der Stadt Zürich haben wir mit der Bestandesaufnahme durch Georg Kreis im Jahr 2020 einen Anfang gesetzt.
Ich denke, wir können viel lernen, wenn wir uns mit der Werkgenese von Denkmälern auseinandersetzen
Kontextualisierung muss aus diesen Gründen offen gestaltet sein und verschiedene Informationen miteinander in Bezug setzen. Das ist im digitalen Raum einfacher möglich. Andererseits müssen Personen gewillt sein, sich die Informationen dort aktiv zu holen, sonst bleiben sie wirkungslos. Das gilt auch für digitale Gegendenkmäler oder Online-Archive.
Für neue Denkmäler ist der Platz knapp. Braucht es einen Denkmal-Friedhof?
Auf eine polemische Frage gebe ich eine polemische Antwort: Ja, aus Gründen der Knappheit. Aber wo soll dieser Friedhof sein? Auch dafür fehlt der Platz. Zwar fällt die Mehrheit der Denkmäler zumindest in der Stadt Zürich nicht unter den Denkmalschutz, was oft missverstanden wird. Lediglich die Escher-Statue ist bei der Denkmalpflege als kommunal schützenswürdig verzeichnet. Denkmäler zu entfernen wäre einfacher als gedacht. Dagegen sprechen vielmehr ethisch-konservatorische Überlegungen sowie urheberrechtliche Einwände. In der Schweiz ist man sich der Rolle des «Custos» bewusst und entfernt Kunstobjekte mit Erinnerungskomponente äusserst zögerlich. Generell ist die die Schweiz im Vergleich mit anderen Ländern zurückhaltend bei der Erinnerungspolitik. Deutschland hat beispielsweise verschiedentlich nationale Mahnmale finanziert. In Frankreich mussten Denkmäler öffentlichen Bauvorhaben weichen, die allerdings auch staatlich finanziert waren. So etwas kam in der Schweiz kaum vor. Es wäre interessant zu untersuchen, warum das so ist.
Fragen: Christina Graf
Über Sara Izzo
Sara Izzo leitet seit 2019 die Fachstelle Kunst im öffentlichen Raum (KiöR) der Stadt Zürich. Zuvor war sie siebzehn Jahre als Kuratorin beim Kunstraum Aarau tätig. Sie hat an der Universität Zürich Kunstgeschichte und italienische Literatur studiert und mit einer Arbeit zur Geschichte der Kunstkritik in der Schweiz abgeschlossen.
Die SAGW befasst sich mit Denkmälern
2021 hat die SAGW das interaktive Webprojekt «Mal Denken!» lanciert. Als Folgeprojekt entstand die Auftragsstudie «Erinnerung partizipativ gestalten. Zivilgesellschaftliche Teilhabe an der Gestaltung öffentlicher Erinnerungskultur in der Schweiz».
Ein Online-Panelgespräch amMittwoch, 19. Oktober (13.15–14.15 Uhr) bildet den vorläufigen Abschluss des Themas für die SAGW. Studienautor Sebastián Lingenhöle diskutiert dort mit Sara Izzo und Jan Morgenthaler (Autor und Mitinitiant der «reisenden Denkmäler»).