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Mittelstand unter Druck? Nein, die Mittelklasse wächst in der Schweiz

Daniel Oesch, Wirtschaftssoziologe
Bildung Gesellschaft – Kultur – Sprache

Der viel diskutierte «Mittelstand» ist als Begriff unbrauchbar. Er verdeckt die Probleme von einfachen Arbeiterinnen und Arbeitern in der Schweiz und Westeuropa.

Keiner Bevölkerungsgruppe kommt in der politischen Debatte der Schweiz so viel Aufmerksamkeit zu wie dem Mittelstand. Bereits beim Begriff handelt es sich um ein schweizerisches Kuriosum. Er suggeriert, dass wir noch immer in einer ständischen und somit vorindustriellen Gesellschaft leben. In Deutschland steht der Mittelstand für kleine und mittlere Unternehmen. Spricht man hingegen über die soziale Schichtung, ist dort der Begriff der Mittelklasse üblich – so wie die classe moyenne in Frankreich oder die middle class in England. Eine konzeptuelle Klärung tut not und erlaubt uns, die Entwicklung der schweizerischen Sozialstruktur in den letzten Jahrzehnten besser zu verstehen.

Der Begriff des Mittelstands ist für die Sozialforschung nutzlos

Die Mittelklasse wird in der Debatte oft der Arbeiterklasse – und seltener der Oberklasse – gegenübergestellt. Der Mittelstand steht hingegen für sich alleine, denn in der Schweiz werden alle dem Mittelstand zugeschlagen: vom Grossunternehmer über die Buchhalterin zum Hausabwart. Die Ausnahmen beschränken sich auf einige wählerschwache Gruppen wie Flüchtlinge, Bezügerinnen und Bezüger von Sozialhilfe oder Pauschalbesteuerte. Ob arm oder reich, alle erwerbstätigen Schweizerinnen und Schweiz gehören zum Mittelstand. Deshalb gefällt der Begriff den politischen Parteien – und deshalb ist er nutzlos für die Analyse der Sozialstruktur.

Will man Licht auf die Sozialstruktur werfen, ist der Begriff der Mittelklasse hilfreicher

Will man Licht auf die Sozialstruktur werfen, ist der Begriff der Mittelklasse hilfreicher. Im 19. Jahrhundert umfasste sie eine kleine Gruppe, die ihren Lebensunterhalt mit nicht-manueller Arbeit verdiente und Berufe ausübte, die eine höhere Bildung erforderten. Sie befand sich in der Hierarchie unterhalb der winzigen, aber mächtigen Oberklasse – die von Kapitalerträgen lebte, ohne arbeiten zu müssen – und oberhalb der grossen Masse von Textil-, Bau- und Landarbeitern, die mit manueller Arbeit ein bescheidenes Leben führten. Letztere Gruppe verschmolz im 20. Jahrhundert mit den Industriearbeitern zur Arbeiterklasse. Die Unterscheidung zwischen Mittel- und Arbeiterklasse ist nicht nur in der Alltagssprache verankert – zwischen Arbeitern und Angestellten, ouvriers et employés. Sie zeigt sich auch weiterhin in der Spaltung zwischen Arbeitergewerkschaften und Angestelltenverbänden.

Stetes Wachstum der Mittelklasse

Die Medien sehen die Mittelklasse bedroht durch den technologischen Wandel, der die Berufsstruktur polarisiert und somit die Mittelklasse aushöhlt. Studien für die Schweiz widerlegen jedoch die Annahme, dass neue Stellen vorwiegend am oberen und unteren Rand des Arbeitsmarkts geschaffen würden, während die Beschäftigung in mittleren Berufen abnähme. In den letzten Jahrzehnte wurde die schweizerische Berufsstruktur vielmehr stetig aufgewertet: Wie andere westeuropäische Länder war auch die Schweiz am erfolgreichsten bei der Automatisierung und Auslagerung von gering qualifizierten Berufen, während die Beschäftigung in höher qualifizierten Berufen stetig stieg.

In den letzten Jahrzehnte wurde die schweizerische Berufsstruktur stetig aufgewertet

Eine Analyse der schweizerischen Arbeitskräfteerhebung 1991-2019 zeigt, dass die Aufwertung der Berufsstruktur von der lohnabhängigen Mittelklasse getrieben wurde. Diese kann in drei Berufsgruppen unterteilt werden: (a) Manager und Projektmitarbeiterinnen; (b) soziokulturelle Experten wie Lehrerinnen, Sozialarbeitern oder Physiotherapeutinnen; (c) technische Experten wie Ingenieure, Informatikerinnen oder Architekten. Diese Berufsgruppen profitierten vom starken Stellenwachstum im Gesundheits- und Bildungswesen sowie der Beratung und Informatik. Im Gegensatz schrumpften zwei hierarchisch untergeordnete Berufsgruppen: die Industrie- und Bauarbeiter sowie die Bürohilfskräfte. Hier handelt es sich jedoch nicht um den Kern der Mittelklasse, sondern um die traditionelle Arbeiterklasse einerseits sowie die untere Mittelklasse andrerseits. Stabil blieb die Beschäftigung bei den Selbstständigen, und nur wenig wuchs sie bei den kleinen Angestellten in den persönlichen Dienstleistungen. Dieses Wachstum war zu schwach, um den Abbau in einfachen Stellen der Landwirtschaft und Industrie sowie des Back-Office zu kompensieren.

Aufwertung im Kontext des Jobwunders

Dieser Wandel in der Berufsstruktur fand im Kontext eines Arbeitsmarktbooms statt. Nach dem Krisenjahrzehnt der 1990er Jahre, in welcher die Beschäftigung in der Schweiz stagnierte, begann mit der Jahrtausendwende ein massives Stellenwachstum. Zwischen 2000 und 2019 erhöhte sich die Beschäftigung in der Schweiz um einen Viertel, von 4.1 auf 5.1 Millionen Arbeitskräfte – die Schweiz erlebte nach der Jahrtausendwende ein wahres «Jobwunder».

Die grosse Verliererin des Strukturwandels der letzten Jahrzehnte war folglich [...] die Arbeiterklasse

Das starke Beschäftigungswachstum in Jobs der (oberen) Mittelklasse ging einher mit einer steten Erhöhung des Bildungsniveaus. In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich die Bildungsexpansion auf der Ebene der Universitäten und Fachhochschulen beschleunigt. Parallel dazu hat die Schweiz vor allem hoch qualifizierte Migrantinnen und Migranten angezogen. Mehr als die Hälfte der jährlich einwandernden Personen verfügt mittlerweile über einen Hochschulabschluss. Ein Bericht des Bundesrats zeigt denn auch, dass die Tertiärausbildung in der Schweiz zur neuen Norm wird und die Berufslehre als höchste Ausbildung einer Mehrheit der Erwerbsbevölkerung ablöst.

Die grosse Verliererin des Strukturwandels der letzten Jahrzehnte war folglich nicht die Mittelklasse oder der «Mittelstand», sondern die Arbeiterklasse. Die Berufs- und Lohnaussichten von einfachen Arbeiterinnen und Arbeitern haben sich in der Schweiz wie anderswo in Westeuropa verschlechtert. Diese Tatsache wird vom Geleier über den «geplagten Mittelstand» verschleiert.

Weiterführende Literatur

Oesch, D. (2022) Wirtschafts- und Sozialstruktur der Schweiz. In: Papadopoulos, Y., Sciarini, P., Vatter, A., Häusermann, S., Emmenegger, P., & Fossati, F. (eds.) (2022). Handbuch der Schweizer Politik, Zürich: NZZ Verlag [pdf]

Oesch, D. und Murphy, E. (2017) Keine Erosion, sondern Wachstum der Mittelklasse. Der Wandel der Schweizer Berufsstruktur seit 1970, Social Change in Switzerland Nr 12 [pdf]

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Zum Autor

Daniel Oesch ist Professor für Wirtschaftssoziologie an der Universität Lausanne und hat zahlreiche Publikationen über soziale Schichtung, das Wahlverhalten und den Arbeitsmarkt veröffentlicht. Er ist der neue Direktor des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Lebenslaufforschung.

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Dies ist eine Open-Access-Publikation, lizenziert unter CreativeCommons CC BY-SA 4.0.

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Titelbild

Thomas8047 via Flickr (CC BY 2.0)