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«Eine Totalrevision zum jetzigen Zeitpunkt macht total Sinn.»

Interview mit Daniel Graf & Michel Huissoud | Fragen: Heinz Nauer & Stella Noack (SAGW)
Droit et politique

Anlässlich des 175-Jahr-Jubiläums fordert die Volksinitiative «Update Schweiz» eine Totalrevision der Bundesverfassung. Das sei keine Utopie, sondern ein moderater Vorschlag, sagen die Initianten.

Am 12. September 2023 wird die Bundesverfassung 175 Jahre alt. Daher erscheint das nächste SAGW-Bulletin Mitte Oktober zum Thema «Verfassung». Im Zentrum steht die Frage: Sind die geltenden Verfassungen und Grundrechte noch der geeignete Rahmen, um gesellschaftliche, politische und rechtliche Antworten auf den Klimawandel, die digitale Selbstbestimmung oder die Globalisierung zu finden? Vorab veröffentlichen wir einen Auszug unseres Interviews mit den Demokratieaktivisten Daniel Graf und Michel Huissoud. Sie outen sich als Fans unserer Bundesverfassung, sehen aber dringenden Modernisierungsbedarf.

Herr Graf, was macht für Sie eine gute Verfassung aus?

Daniel Graf: Mein Verständnis von unserer Verfassung ist ganz einfach: Sie ist ein Betriebssystem, das ein möglichst reibungsloses Funktionieren der gesellschaftlichen Ordnung sicherstellt und die Grundrechte aller Menschen garantiert. Eine gute Verfassung soll aber auch die Demokratie pflegen und weiterentwickeln. Letzteres möchte ich doppelt unterstreichen. Demokratie ist für mich eine Zielgrösse und kein Zustand, der ein für alle Mal erreicht ist. Deshalb ist es wichtig, darüber nachzudenken, wie Selbstverbesserungsmechanismen in die Verfassung eingebaut werden können.

Sie sagen, Demokratie müsse ständig weiterentwickelt und auch eingeübt werden. Reicht dafür das viel genutzte Instrument der Volksinitiative nicht aus?

Michel Huissoud: Volksinitiativen sind für mich wichtig, die Ursache aber ist die Verfassung. Was einen Genfer mit einem St. Galler verbindet, ist nicht die nächste Abstimmung, sondern die Verfassung, die festhält, dass wir alle Bürgerinnen und Bürger des gleichen demokratischen Landes sind. Die Verfassung ist der Zement, ohne den die Verwaltungen in unserem Land auseinanderfallen würden.

Die Verfassung ist der Zement, ohne den die Verwaltungen in unserem Land auseinanderfallen würden.

Graf: Volksinitiativen als verfassungsrechtliche Teilrevisionen haben Limits. Und sie sind sehr teuer. Man kann eine einfache Kosten-Nutzen-Rechnung machen. Wie viele Initiativen müssten wir als Zivilgesellschaft machen, damit wir wirklich vorankommen? Da scheint es mir ganz rational, zu sagen: Eine Totalrevision zum jetzigen Zeitpunkt macht total Sinn.

Haben Sie in Ihrer Verfassungs-Tabula-rasa auch eine Rolle für die Wissenschaften vorgesehen?

Huissoud: Halt! Wir wollen gar keine Tabula rasa. Wir sind Fans der heutigen Verfassung. Die Fortschritte, die in den letzten 175 Jahren erkämpft wurden, müssen erhalten bleiben. Wir wollen nur Verbesserungen, ein Update eben.

Graf: Ein Academic Board mit Rechts- und Politikwissenschaftlern ist derzeit im Aufbau begriffen. Wir brauchen sehr viel Knowhow für den Prozess. Noch nicht so sehr zu Beginn, da der Initiativtext sehr einfach ist.

Wir wollen gar keine Tabula rasa. Wir sind Fans der heutigen Verfassung.

Liegt der Text schon vor?

Graf: Er wird aus einem einzigen, sehr einfachen Satz bestehen, etwa so: «Die Unterzeichnenden fordern eine Totalrevision der Bundesverfassung vom 18. April 1999.»

Verfassungsrecht gilt als trockene Materie. Bei der Volksabstimmung über die neue Bundesverfassung 1999 lag die Stimmbeteiligung unter 36 Prozent. Wie wollen Sie die Leute bei einer allfälligen Abstimmung an die Urne bringen?

Graf: Im Verfassungsindex stehen alle möglichen Stichworte drin, zu denen die Verfassung etwas zu sagen hat: Kino, Wanderwege, Moore, Minarette, Kernenergie und Kinder. Nicht im Index zu finden ist aber der Begriff «Internet». Wir haben eine Verfassung deren letzte Totalrevision in einer Zeit gestartet wurde, als die Berliner Mauer noch stand und Elisabeth Kopp Bundesrätin war. Die Welt ist in den letzten 25 Jahren nicht stehen geblieben. Ein Update der Bundesverfassung ist deshalb nicht nur sinnvoll, sondern dringend nötig.

Huissoud: Es geht uns auch gar nicht um eine Utopie, nicht darum, was in 30 oder 50 Jahren sein könnte. Unsere Verfassung soll einfach zeitgemäss sein. Das scheint mir eigentlich ziemlich moderat.

Unsere Verfassung soll einfach zeitgemäss sein. Das scheint mir eigentlich ziemlich moderat.