Bildung

Gesellschaftliche Ungleichheit sei nicht ökonomisch oder technologisch bedingt und schon gar kein Naturgesetz, sondern letztlich die Folge von bestimmten, sich historisch wandelnden Ideologien und politischen Systemen und Praktiken, schreibt Thomas Piketty in «Capital et Idéologie» (2019). Man könnte zahlreiche andere Ausgangspunkte wählen, etwa Pierre Bourdieus und Jean-Claude Passerons bereits vor 50 Jahren erschienenes Werk «La reproduction» (auf Deutsch: «Die Illusion der Chancengleichheit»), in dem eine soziale Reproduktion via Bildungswesen konstatiert wird.

Die SAGW befasst sich im Kontext der Agenda 2030 der Vereinten Nationen seit vielen Jahren mit den Bildungswegen in der Schweiz und in diesem Zusammenhang insbesondere mit der sozialen Selektion und der Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Bildungswegen.

Soziale Selektion im Bildungssystem

Soziale Ungleichheiten werden durch das Bildungssystem reproduziert. Der Bildungserfolg ist indes stark von sozioökonomischen Ressourcen und dem Bildungsniveau des Elternhauses abhängig. Es bestehen strukturelle Hürden, die Kindern und Jugendlichen mit Eltern ohne höhere Bildung von einem tertiären Abschluss abhalten, wie unter anderen ein 2018 publizierter Bericht des Schweizerischen Wissenschaftsrats festhielt. Die Begabungsreserve in der Schweiz, wo die Maturaquote im Durchschnitt rund 20 Prozent betrage, werde nicht wirksam ausgeschöpft, sagen Bildungsforscher (vgl. Tagung «Übergänge von der Sekundär- zur Teritärstufe», 2019).

Chancengleichheit gilt über das gesamte politische Spektrum hinweg als erstrebenswert. Trotz geringer sozialer Durchlässigkeit in der akademischen Bildung ist die relative Einkommensmobilität in der Schweiz aber höher als in vielen anderen Ländern. Eine im Juli 2020 publizierte Studie von Ökonomen der Universität St. Gallen zeigt: In der Schweiz schaffen es rund 13 Prozent aus dem ärmsten Einkommensfünftel ins reichste Fünftel (während mehr als 30 Prozent aus dem reichsten Fünften dort verbleiben). 

Studie «Investieren wir genügend in die Volksschule?»

Wie haben sich die öffentlichen Bildungsausgaben, die immerhin rund 18 Prozent der staatlichen Gesamtausgaben ausmachen, in der letzten Dekade entwickelt? Wieviel Geld fliesst in die Volksschule? Wieviel in die Hochschule? Die Studie «Investieren wir genügend in die Volksschule? Entwicklung der öffentlichen Bildungsausgaben für die Volksschule und den Hochschulbereich» (2021) macht eine Auslegeordnung und liefert die Zahlen für die Jahre 2008–2018. Sie zeigt: Die öffentlichen Bildungsausgaben sind im Hochschulbereich leicht stärker gestiegen als für die obligatorische Schulstufe, wobei die Kantone sehr unterschiedliche Strategien wählten, um ihre Bildungsausgaben an die demografische Entwicklung anzupassen.

zur Studie

Die wichtigsten Ergebnisse in Kürze

  • Die öffentlichen Bildungsausgaben sind im Hochschulbereich stärker gestiegen als für die obligatorische Schulstufe: Die Kantone und ihre Gemeinden haben 2018 für die obligatorische Schulstufe 19,1 Milliarden Franken aufgewendet. Dies entspricht einem Ausgabenzuwachs von 27 Prozent seit 2008. In der gleichen Zeit sind die jährlichen Ausgaben von Bund und Kantonen für die Hochschulbildung um 34 Prozent auf 8,4 Milliarden Franken gestiegen.
     
  • Die Kantone wählen unterschiedliche Strategien bei der Anpassung der Bildungsausgaben an die demografische Entwicklung: Ein gutes Drittel der Kantone und ihre Gemeinden haben die Ausgaben für die Volksschulbildung in den letzten Jahren deutlich stärker angehoben als die Ausgaben für die Hochschulbildung, in einem weiteren Drittel fällt das Ausgabenwachstum sowohl für die obligatorische Schulstufe als auch für die Tertiärbildung A (akademische Bildung) unterdurchschnittlich aus. In einigen Kantonen wie Baselland, Wallis oder Zug sind die Ausgaben für die Hochschulbildung im Verhältnis zur Anzahl Studierenden überproportional gewachsen, dafür haben sie weniger in die Volksschulbildung investiert. Andere Kantone wie Basel-Stadt, Waadt und Zürich verfolgten eine andere Strategie und haben die Ausgaben für die Volksschulbildung deutlich stärker erhöht, als sich die Lernendenzahlen entwickelt haben.
     
  • Steigende Bildungsausgaben pro Einwohnerin und Einwohner: In rund einem Drittel der Kantone sind die öffentlichen Bildungsausgaben pro Einwohnerin und Einwohner für die Volksschulbildung stärker gestiegen als die Ausgaben für die Hochschulen und Grundlagenforschung. In rund zwei Drittel hingegen war es umgekehrt: Hier sind die Ausgaben pro Person für den Hochschulbereich in grösserem Ausmass gestiegen als jene für die Volksschulbildung. Der grösste Teil der Kantone, die zu dieser Gruppe zählen, hat die Ausgaben für die Volksschule um weniger als 10 Prozent pro Einwohnerin und Einwohner angehoben.
     
  • Die öffentlichen Bildungsausgaben pro Volksschülerin und -schüler sind stärker gestiegen als die Ausgaben pro Hochschulstudentin und -student: Die Kantone und ihre Gemeinden investierten 2018 im Durchschnitt gut 20 000 Franken pro Schülerin und Schüler auf obligatorischer Schulstufe. Dies entspricht im Zehnjahresvergleich einem Anstieg von 22 Prozent. Pro Studentin und Student auf Hochschulstufe gibt der Staat jährlich 34 397 Franken für die Bildung aus. Die Ausgaben pro Studierende sind seit 2008 leicht gesunken (-2 %).

Es ist weitgehend unbestritten, dass der heutige Mangel an Fachkräften systembedingt ist. Dies hat weitreichende Implikationen, gerade auch für die Umsetzung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals SDGs). Um die Sozialziele der Agenda 2030 zu erreichen, gesellschaftlichen Fortschritt zu erzielen und das Humanvermögen auszuschöpfen, sollte der Grundausbildung in der obligatorischen Volksschule ein besonders hoher Stellenwert zukommen. Gemessen an der Entwicklung der öffentlichen Finanzierung gibt es noch Luft nach oben.

Schmidlin, Sabrina und Francesco Montemurro (2021): Investieren wir genügend in die Volksschule? Entwicklung der öffentlichen Bildungsausgaben fü die Volksschule und den Hochschulbereich 2008–2018. Studie im Auftrag der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, Bern. http://doi.org/10.5281/zenodo.4778686

Studie «Tertiarisierungsdruck»

Der Bedarf an Fachpersonen mit einem tertiären Bildungsabschluss nimmt in der Schweiz stetig zu. Vom Bildungssystem wird deshalb erwartet, dass es mehr jungen Menschen – unabhängig ihrer Herkunft – eine Ausbildung auf Tertiärstufe ermöglicht.

Der Bericht «Tertiarisierungsdruck – Herausforderungen für das Bildungssystem, den Arbeitsmarkt und das einzelne Individuum» (2020), verfasst von den Bildungsforscherinnen Irene Kriesi und Regula Julia Leemann und herausgegeben von der SAGW, skizziert die Hintergründe, stellt die heutige Bildungssituation dar und beschreibt die individuellen und institutionellen Merkmale, die zu sozialen Ungleichheiten im Bildungswesen führen.

Kriesi, Irene und Regula Julia Leemann (2020): Tertiarisierungsdruck – Herausforderungen für das Bildungssystem, den Arbeitsmarkt und das Individuum, hg. von der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (Swiss Academies Communications 15,6). http://doi.org/10.5281/zenodo.3678523

    Die wichtigsten Ergebnisse in Kürze

    • Der Mangel an tertiär ausgebildeten Fachkräften in der Schweiz ist hoch und wird anhalten. Gemildert wurde er bisher durch den Anstieg an Abschlüssen auf Hochschulstufe – die Abschlüsse in der höheren Berufsbildung haben dagegen stagniert.
       
    • Entschärft wurde der Mangel im Weiteren durch die Zuwanderung von hochqualifizierten Fachkräften aus dem Ausland, was gesellschaftspolitisch jedoch problematisch ist.
       
    • Die Bildungsaspirationen sind gestiegen. Familien streben für ihre Kinder öfters eine Ausbildung auf Hochschulstufe an, in der französischsprachigen Schweiz ausgeprägter als in der Deutschschweiz.
       
    • Eine berufliche Grundbildung ist eine gute Grundlage für den Arbeitsmarkt-eintritt, genügt alleine aber nicht mehr, um längerfristig den steigenden Kompetenzanforderungen nachzukommen.
       
    • Der Weg über die Allgemeinbildung (Gymnasium, Fachmittelschule) an die Hochschulen wird insbesondere in Kantonen der Deutschschweiz über bildungspolitische Steuerungsmassnahmen quantitativ eingeschränkt.

    Arbeitsgruppe «Zukunft Bildung Schweiz»

    Die Arbeitsgruppe «Zukunft Bildung Schweiz» fördert eine evidenzgestützte, strukturierte Diskussion und Reflexion von zukunftsbezogenen Bildungsfragen unter Einbezug aller Stakeholder. Zu ihren Aufgaben gehören die Aufarbeitung von Expertisen, die Konsolidierung von aus der Diskussion hervorgegangenen Ergebnissen sowie die Ausarbeitung von daraus abgeleiteten Empfehlungen zuhanden der zuständigen Stellen. Die Arbeitsgruppe startete 2009 mit dem vielbeachteten Weissbuch «Zukunft Bildung Schweiz. Anforderungen an das schweizerische Bildungssystem 2030» und begleitete die Aktivitäten der Akademien seither in ihrer Auseinandersetzung mit Bildungsthemen.

    Zusammensetzung der Arbeitsgruppe

    • Dorothee Brovelli, Fachleiterin Naturwissenschaften, PH Luzern
    • Regula Julia Leemann, Leitung der Professur Bildungssoziologie, PH FHNW
    • Sonja Engelage, Senior Researcher, Eidgenössisches Hochschulinstitut für Berufsbildung
    • Daniel Oesch, Directeur de l'institut de sciences sociales, Université de Lausanne
    • Roland Reichenbach, Professor für allgemeine Erziehungswissenschaft, Universität Zürich
    • Hansjürg Stocker, Vizepräsident Verein Schweizerische Mathematik- und Physiklehrkräfte

    Titelbild

    Titelbild von Martina Janochová auf Pixabay