Mit innovativen Bottom-up-Strategien versuchen Berner Ernährungsinitiativen das Ernährungssystem in der Stadt hin zu mehr Nachhaltigkeit zu transformieren. Dabei beliefern sie beispielsweise nicht nur Stadtbewohner*innen mit nachhaltig-produzierten Lebensmitteln, sondern haben ebenfalls den Anspruch diese zu sensibilisieren, indem sie u.a. Kochkurse mit Lebensmittelresten anbieten oder Integrationsprojekte durchführen. Wir – Evelyn Markoni (Umweltsoziologin) und Franziska Götze (Konsumwissenschaftlerin) – haben die Ansprüche und Herausforderungen von zivilgesellschaftlichen Ernährungsinitiativen der Stadt Bern im Rahmen einer Vorstudie mit dem Titel «Anspruch und Wirklichkeit bei der Umsetzung eines nachhaltigen städtischen Ernährungssystems» explorativ erforscht. Dazu führten wir qualitative Expert*inneninterviews mit acht Vertreter*innen von Ernährungsinitiativen in der Stadt Bern durch. Die Forschungsfragen lauteten dabei: Welche Ansprüche haben Berner Ernährungsinitiativen an ein nachhaltiges Ernährungssystem? Welche Herausforderungen ergeben sich bei der Umsetzung ihrer Ansprüche? Die ersten Ergebnisse wurden kürzlich in der Buchpublikation «Postwachstumsstadt: Konturen einer solidarischen Stadtpolitik» veröffentlicht und sind gratis zum Download verfügbar.
Einfluss und Grenzen von Nischenakteur*innen
Innerhalb der Vorstudie diskutieren wir auch auf Basis der Mehr-Ebenen-Perspektive (Geels, 2002), inwiefern Nachhaltigkeitstransitionen gelingen können. Wir analysieren, welchen Einfluss die Aktivitäten der Ernährungsinitiativen auf strukturelle Rahmenbedingungen haben. Ernährungsinitiativen formieren sich innerhalb von Nischen zu Akteursnetzwerken. Die Nischenakteur*innen reagieren, gemäss Geels (2002), stärker auf Entwicklungen, die sie nicht direkt beeinflussen können (beispielsweise den Klimawandel) als geltende Regime und finden schneller innovative Lösungen (Köhler et al., 01/2017; Schrape, 2014; Smith & Raven, 2012; Geels, 2002). Mit ihren Innovationen sensibilisieren die Berner Ernährungsinitiativen sowohl die Politik als auch städtische Konsumierende für soziale und ökologische Probleme und üben Druck auf vorhandene Regime aus. Dennoch stossen sie auch auf Herausforderungen wie ein fehlender Zugang zu einer nachhaltigen Ernährung für alle Bevölkerungsgruppen in der Stadt, sei es aufgrund mangelnden Bewusstseins oder fehlender Zeit. Ebenfalls ist die Veränderung von bestehenden Lebensstilen im Hinblick auf mehr Suffizienz durch den Einfluss der Initiativen, trotz Sensibilisierung, nur schwer zu erreichen. Zudem bleiben sie oftmals in ihrer Nische und können ihr pionierhaftes Unternehmertum nicht vollends entfalten, um einen strukturellen Wandel hervorzurufen.
Lösungsansätze und Empfehlungen
In der Vorstudie stellen wir auch mögliche Lösungsansätze vor: Konsumkorridore (eine Ober- und Untergrenze des Konsums) (vgl. Di Giulio & Fuchs, 07/2014), neue Arbeitszeitmodelle und nicht zuletzt partizipative Ansätze bei der Erforschung städtischer Ernährungssysteme. Partizipation und eine demokratische Teilhabe der Stadtbevölkerung an einem urbanen Ernährungssystem können einen wichtigen Beitrag leisten, um städtische Strukturen resilienter gegenüber sozialen, politischen und ökologischen Herausforderungen zu gestalten. Für eine sozial-ökologische Transformation von Städten braucht es sowohl die Förderung von Bottom-Up-Initiativen und nachhaltigen Lebensstilen durch geeignete Rahmenbedingungen und Partizipation als auch eine nachhaltige Stadtpolitik mit einem veränderten Verständnis von Stadtentwicklung und das kritische Hinterfragen vorherrschender Wachstumsparadigmen. Die Arbeit präsentiert zwar kein abgeschlossenes Forschungsprojekt, soll jedoch einen Beitrag leisten, die besonderen Strukturen städtischer Ernährungssysteme sowie die dazugehörigen Food Governance-Strategien besser zu verstehen und zu einem transdisziplinären Austausch zwischen den unterschiedlichen Akteur*innen anregen.
Literatur
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Di Giulio, A., & Fuchs, D. (07/2014): Sustainable Consumption Corridors: Concept, Objections, and Responses. In: GAIA - Ecological Perspectives for Science and Society, Volume 23, Supplement 1. S. 184-192
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Geels, F. W. (2002): Technological transitions as evolutionary reconfiguration processes: A multi-level perspective and a case-study. Research Policy, 31. S. 1257-1274.
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Köhler, J. et al. (01/2017): Anwendung der Mehr-Ebenen-Perspektive auf Transitionen: Initiativen in den kommunal geprägten Handlungsfeldern Energie, Wasser, Bauen & Wohnen. Working Paper Sustainability and Innovation. Karlsruhe: Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI.
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Schrape, J.-F. (2014): Kurze Einführung in die Multi-Level Perspective. [gedankenstrich.org/wp-content/uploads/2014/11/KurzeEinf%C3%BChrung-in-die-Multi-Level-Perspective.pdf, abgerufen am 30.08.2019]
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Smith, A., & Raven, R. (2012): What is protective space? Reconsidering niches in transitions to sustainability. Research Policy 41, 6. S. 1025-1036.