Auf sozialpolitischer Ebene hegt man die Hoffnung, dass das Generationenwohnen einerseits die Generationensolidarität stärkt, die mit Blick auf die demographische Alterung und die Sozialwerke Sorgen bereitet. Andererseits möchte man eine neue Quelle für zivilgesellschaftliche Unterstützungsressourcen erschliessen und so idealerweise auch Betreuungskosten senken: Bei den Jüngsten, die von den Seniorinnen und Senioren im Generationenhaus betreut werden, und bei den fragilen Bewohnerinnen und Bewohnern, die durch ihre jungen Nachbarn Unterstützung erfahren. Ist Generationenwohnen also als Zweck- und Tauschgemeinschaft zu verstehen, die auf Basis informeller Nachbarschaftshilfe funktioniert?
Besonders anspruchsvoll: Unterstützung trotz unterschiedlicher Lebensphasen
Der Blick in den Wohnalltag generationengemischter Siedlungen zeigt: Es sind gerade die altersgemischten Nachbarschaften, die sich ökonomischen Funktionsweisen entziehen. Nachbarn in der gleichen Lebensphase (bspw. Eltern mit kleinen Kindern) haben ähnliche Bedarfe (bspw. Kinder hüten). Sie können sich deshalb gegenseitig und vor allem auch gleichwertig unterstützen – sie müssen sich dafür nicht einmal besonders mögen. Anders ist die Lage bei Unterstützungsleistungen zwischen zwei Nachbarn in unterschiedlichen Lebensphasen. Unterstützung ist dort oft einseitig. So geht bspw. die Seniorin, welche die kleinen Nachbarskinder zu bändigen vermag, noch gerne selbst einkaufen. Kommt trotzdem ein gegenseitiger Tausch von Unterstützung zustande, stellt sich die Frage nach der Gleichwertigkeit. Ist das zweistündige Beaufsichtigen von Kindern gleich viel wert wie das Mitbringen von Milch und Sellerie aus dem Quartierladen? Unterstützungsarrangements zwischen Personen in unterschiedlichen Lebensphasen und Lebenssituationen zu gestalten, ist also anspruchsvoll.
Alltäglicher nachbarschaftlicher Kontakt notwendige Voraussetzung
Hilfreich ist deshalb der Blick auf den empirisch belegten Stellenwert und die Rahmenbedingungen von informeller Nachbarschaftshilfe: In einer gross angelegten Befragung zur informellen Nachbarschaftshilfe in der Stadt Nürnberg zeigte sich, dass rund die Hälfte der Befragten nur Nachbarn unterstützen will, mit denen man sich versteht. Und von Nachbarn, zu denen nur wenig oder kein Kontakt besteht, möchte man auch keine Unterstützung annehmen (Fromm & Rosenkranz 2019). Alltäglicher nachbarschaftlicher Kontakt gehört somit zu den Schlüsselfaktoren einer tragfähigen und niederschwelligen Nachbarschaftshilfe. Dabei ist nicht zu vergessen, dass die emotionale Unterstützung durch Nachbarn ebenso wichtig ist wie die sachbezogene Hilfe (Höpflinger, Hugentobler & Spini 2019; Lang 1994). Zudem sind gerade im Alter auch sogenannte «weak ties» (Granovetter 1973) – in diesem Kontext wenig vertiefte Nachbarschaftsbeziehungen – bedeutungsvoll und vermitteln Sicherheit im Alltag (Günther 2015).
Was bedeutet das für die generationengemischte Siedlung?
Soll Nachbarschaft zu einem tragfähigen sozialen Netzwerk werden, dann ist das zentrale Ziel von Generationenwohnen die Entwicklung von guten Beziehungen innerhalb der Bewohnerschaft. Es mag widersprüchlich klingen, aber wenn das Potenzial von Generationenbeziehungen im Wohnumfeld zivilgesellschaftlich aktiviert werden soll, muss man die «funktionale» Zielsetzung von Generationenwohnen durch eine «emotionale» ersetzen. Beziehungen zwischen Nachbarn kommen auf der persönlichen Ebene zustande. Das lässt sich weder erzwingen noch steuern. Aber man kann gute Grundlagen für deren Entwicklung bereitstellen: durch Räume, wo man sich begegnen kann und durch gemeinsame Aufgaben oder Aktivitäten im Wohnumfeld, an denen persönliche Beziehungen zwischen Nachbarn einen Kristallisationspunkt finden können.
Damit das gelingt, braucht es zwischen den individuellen Alltagswelten der Bewohnerinnen und Bewohner einer Siedlung Schnittmengenbereiche. Diese sind gerade bei Nachbarn in unterschiedlichen Lebensphasen oft kleiner. Sie zu finden und zu nutzen, das ist die Aufgabe und die Herausforderung des Generationenwohnens. Die gute Nachricht: Solche intergenerationellen Nachbarschaftsbeziehungen können sich überall entwickeln, wo Menschen unterschiedlichen Alters beieinander wohnen. Spezielle Wohnmodelle sind dafür keine Voraussetzung.
Autor
Andreas Sidler arbeitet seit 2008 bei der Age-Stiftung, welche Projekte im Bereich Wohnen und Älterwerden finanziell unterstützt und dokumentiert. Dort leitet er den Bereich Forschung & Wissensvermittlung.
Literaturangaben
- Fromm, S. & D. Rosenkranz (2019): Unterstützung in der Nachbarschaft. Struktur und Potenzial für gesellschaftliche Kohäsion. Wiesbaden, Springer.
- Granovetter, M. S. (1973): The Strength of Weak ties. American Journal of Sociology. DOI: https://doi.org/10.1086/225469
- Günther, J. (2015): Soziale Unterstützung und Nachbarschaft. In: Reutlinger et al.: Soziale Nachbarschaften, S. 189 – 193. Wiesbaden, Springer VS. DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-531-19051-8_14
- Höpflinger, F., V. Hugentobler & D. Spini, Hrsg. (2019): Age Report IV. Zürich, Seismo.
- Lang, F. R. (1994): Die Gestaltung informeller Hilfebeziehungen im hohen Alter – die Rolle von Elternschaft und Kinderlosigkeit: eine empirische Studie zur sozialen Unterstützung und deren Effekt auf die erlebte soziale Einbindung. Berlin, Sigma.
Age-Dossier 2020/2: Generationen – Wohnen heisst Nachbarschaft
Welche Bedeutung haben Generationenbeziehungen im Wohnumfeld und wie kann man sie fördern? Diese Frage steht im Zentrum des aktuellen Age-Dossiers, für welches sowohl Expertinnen und Experten aus der Forschung als auch viele Verantwortliche aus den Förderprojekten der Age-Stiftung sowie Bewohnerinnen und Bewohner altersgemischter Siedlungen interviewt wurden.
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