Das Ideal von Wissenschaft als wertneutrale, objektive Suche nach allgemeingültigen Wahrheiten ist weitverbreitet. Und das ist gut so. Wichtig ist allerdings anzuerkennen, dass es ein Idealbild darstellt. Wie der wissenschaftliche Erkenntnisprozess in der Praxis abläuft, ist freilich komplizierter.
1935 veröffentlichte der Lemberger Mediziner Ludwik Fleck ein Buch über den Begriff der Syphilis. Darin argumentierte er, dass wissenschaftliche Erkenntnis nicht im isolierten Gehirn von einzelnen Genies passiert, sondern dass Wissenschaft eine kooperative Tätigkeit sei. Sie wird in einer sozialen Gruppe ausgeführt. Wie jede soziale Gruppe, sei auch diese vom Kontext geprägt. Ein voraussetzungsloses Beobachten sei unmöglich und wissenschaftliche Tatsachen damit geschichts- und kulturabhängig.
Besonders die Erfahrung, dass sich deutsche Wissenschaftler von der nationalsozialistischen Ideologie und Politik vereinnahmen liessen, bestätigten Flecks Annahme. Als Reaktion darauf entwickelte der US-amerikanische Soziologe Robert K. Merton 1943 «Verhaltensmassregeln», denen die wissenschaftliche Erkenntnisgenerierung folgen müsse. Unter anderem soll Wissenschaft rein objektiven Kriterien folgen, unabhängig von persönlichen und sozialen Faktoren wie Religion, Nationalität, Geschlecht oder Machtverhältnissen. Es obliege der wissenschaftlichen Gemeinschaft, also den «peers», dies zu kontrollieren.
Diese Vorstellung von guter wissenschaftlicher Praxis gilt nach wie vor. Doch Kontrollmechanismen können versagen, und die Kriterien, nach denen wissenschaftliche Leistung bewertet und Karrieren gefördert werden, folgen einer eigenen Logik. Darüber hinaus benötigt wissenschaftliche Forschung Geld. Förderinstitutionen wie der Schweizerische Nationalfonds oder die Deutsche Forschungsgemeinschaft sind in das jeweilige politische und kulturelle System eingebettet, das mitbestimmt, welche Forschungsfragen als relevant und welche Forschungsmethoden als adäquat beurteilt werden.
Die historische Entwicklung der Klimaforschung
Kommen wir zurück zur eingangs gestellten Frage. Zunächst gilt es anzumerken, dass die Studierenden mit «Wissenschaft» die Klimaforschung meinen. Doch welche?
Die Instrumente und Zugänge der Klimaforschung haben sich im Laufe des 20. Jahrhunderts stark verändert. Bis in die 1950er Jahre war die Klimatologie ein sehr heterogenes Feld. Oft waren es Geographen, die regionale Klimaphänomene beschrieben und die Auswirkung unterschiedlicher Klimata auf den menschlichen Körper untersuchten. Eine wichtige politische Rolle kam ihnen zu, wenn es um Landwirtschaft oder die Besiedelung von Kolonien ging. Wo ganz andere klimatische Verhältnisse herrschten als in Europa, erschien beispielsweise die Frage nach den gesundheitlichen Folgen für Siedlerinnen und Siedler als dringlich.
Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges begann der Siegeszug der Computermodelle. Basierend auf einer rein physikalischen Beschreibung der Atmosphäre entwickelten Mathematiker und Physikerinnen die ersten numerischen Klimamodelle. Die theoretischen Grundlagen dafür hatte zwar der norwegische Physiker Vilhelm Bjerknes bereits 1904 entwickelt. Doch erst die neue Computertechnologie stellte nun auch die erforderliche Rechenkapazität zur Verfügung. Schnell verbreiteten sich diese globalen Klimamodelle und verdrängten die anderen Ansätze und Disziplinen der Klimaforschung.
Der Erfolg dieser neuen Art der Klimaforschung war nicht zufällig.
Der Zeitgeist bestimmte, welche Fragestellungen als wissenschaftlich relevant und welche Instrumente als glaubwürdig eingeschätzt wurden. Auch die Klimaforschung entwickelte sich nicht unabhängig vom gesellschaftlichen Kontext: Mit Beginn des Kalten Krieges prägten Aufrüstung und Stellvertreterkriege die Geopolitik. Es kamen Dürreperioden in Afrika und extrem kalte Winter in Nordamerika dazu. Die globale Gesellschaft und der Planet Erde erschienen mehr und mehr als komplexes, zusammenhängendes System, sowohl in politischer als auch in physikalischer Hinsicht. Ab den 1970er Jahren verschärften sich die Debatten um Bevölkerungswachstum, Ressourcenverbrauch und Umweltverschmutzung. Physik und neue Technologien, so die weitverbreitete Meinung, könnten und sollten die Probleme der Menschheit lösen. Folglich genoss auch die Computertechnologie grosse Autorität und deren vereinfachte physikalische Modelle versprachen globale Antworten auf nun globale Probleme.
Heute dominiert die modellbasierte Klimaforschung den öffentlichen Diskurs. Sie wird pars pro toto als die Klimaforschung erachtet. Numerische Modelle liefern Projektionen, wie sich das Klima in Zukunft verändern kann. Darauf, und allein darauf, so suggeriert es die Frage der Studierenden, sollten politische Entscheidungen getroffen werden.
Dies ist in der Vergangenheit tatsächlich auch mehrfach passiert. Seit den 1970er Jahren gibt es Gesetze und Vorstösse, um Klima- und Umweltveränderungen zu minimieren, sei es mit dem Verbot von Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) oder bestimmten Pestiziden, der Förderung nachhaltiger Produktion bis hin zum CO2-Handel. Der Eindruck, dass die Politik nichts tut trügt also in dieser Absolutheit und spricht eher dafür, dass viele Entwicklungen der letzten 50 Jahre Umweltpolitik heute als selbstverständlich gelten.
«Follow the Science»: doch welcher Wissenschaft?
Gegenwärtig wird immer deutlicher, dass der Klimawandel kein physikalisches Problem ist, sondern ein gesellschaftliches. Folglich wird die Klimaforschung wieder diverser: Die Umweltgeschichte fragt nach den Auswirkungen von extremen Klimaereignissen auf vergangene Gesellschaften, die Wissenschaftssoziologie erforscht, wie sich der Weltklimarat auf die für ihn relevanten Forschungsergebnisse einigt, Politikwissenschaften analysieren die Wechselwirkungen zwischen Klima und sozialen Unruhen, die Ethnologie untersucht, wie Klimawandel in nicht-westlichen Gesellschaften wahrgenommen wird und in der Medizin gewinnen Fragen zu gesundheitlichen Folgen des Klimawandels an Relevanz. Welcher «Wissenschaft», beziehungsweise welcher wissenschaftlichen Disziplin, soll die Politik also folgen?
Das Beispiel der Klimaforschung zeigt, dass sich Wissenschaft und Politik nicht klar voneinander trennen lassen. Beides wird in der gleichen kulturellen, historisch geprägten «Wertsphäre» (Max Weber) praktiziert. Aber sie folgen jeweils anderen Regeln und haben unterschiedliche Aufgaben.
Eine Demokratie zeichnet sich dadurch aus, dass alle als mündig erachteten Personen als gleichwertig und mitspracheberechtigt gelten. Damit müssen die Bedürfnisse diverser Bevölkerungsgruppen berücksichtigt werden, ob nun in Bezug auf Gesundheit, Arbeitsplatzsicherheit, sozialer Teilhabe, internationaler Beziehungen oder wirtschaftlicher und politischer Stabilität.
Wissenschaft ist hingegen mitnichten demokratisch: Zugang dazu hat nur eine kleine Gruppe von Personen, die ganz bestimmte Kriterien erfüllt, beispielsweise akademische Titel und Leistungsausweise besitzt, über institutionelle Zugehörigkeit verfügt oder ausreichende Finanzierung vorweisen kann. Das Ziel der Wissenschaft ist es, belastbares Wissen über das Funktionieren der natürlichen Umwelt und von gesellschaftlichen Systemen zu produzieren. Trotz ihrer Einbettung in gesellschaftliche Werte und deren Wandel, den Unsicherheiten und der Vorläufigkeit ihrer Erkenntnisse, produziert die moderne Wissenschaft verlässliche Ergebnisse. Doch wie dieses Wissen genau zustande kommt, bleibt für Aussenstehende oft unklar. Um darauf politisches Handeln zu stützen, braucht es daher Glaubwürdigkeit und Vertrauen.
Es ist wichtig zu verstehen, wie und in welchem Kontext dieses Wissen entstand und auf welchen Annahmen es beruht.
«Science», im englischsprachigen Sinne als Naturwissenschaft verstanden, ist dabei ein zu eingeschränktes und veraltetes Verständnis von Klimawissenschaft. Zu fordern, dass ausschliesslich deren Erkenntnisse im politischen Handeln zu berücksichtigen seien, greift zu kurz. In den politischen Meinungsbildungsprozess muss stattdessen die Klimaforschung in all ihren disziplinären Facetten einfliessen.
Literatur
Bjerknes, Vilhelm (1904): The problem of weather prediction, considered from the viewpoints of mechanics and physics, in: Meteorologische Zeitschrift 21, S. 1-7. https://doi.org/10.1127/0941-2948/2009/416.
Edwards, Paul N. (2010): A Vast Machine. Computer models, climate data, and the politics of global warming. Cambridge, Massachusetts.
Fleck, Ludwik (1980): Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache: Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt am Main.
Heymann, Matthias (2009): Klimakonstruktionen: Von der klassischen Klimatologie zur Klimaforschung, in: NTM Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin, 17, S. 171-197. https://doi.org/10.1007/s00048-009-0336-3.
Knorr-Cetina, Karin D. (1981): The Manufacture of Knowledge, New York.
Merton, Robert K. (1985): Entwicklung und Wandel von Forschungsinteressen: Aufsätze zur Wissenschaftssoziologie, Frankfurt am Main.
Weber, Max (1919): Wissenschaft als Beruf, in: Geistige Arbeit als Beruf: Vorträge vor dem Freistudentischen Bund, München/Leipzig, S. 1-37.
Über die Autorin
Dania Achermann promovierte zur Geschichte der deutschen Flug- und Atmosphärenforschung. Als Postdoktorandin erforschte sie die Geschichte der Klimamodellierung. Anschliessend war sie als Juniorprofessorin für historische Wissenschafts- und Technikforschung an der Bergischen Universität Wuppertal tätig. Zurzeit leitet sie ein Forschungsprojekt zur Geschichte der Eisbohrkernforschung und ist seit dem 1. Februar 2024 assoziierte Professorin für Wissenschafts- und Technikgeschichte an der Universität St. Gallen.
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