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Integration macht sich bezahlt, hat aber ihren Preis

Urs Hafner

Urs Hafner hat die Jubiläumsschrift der SAGW rezensiert. Er lobt den Willen zur Kritik – und wünscht sich zugleich mehr davon, in Schrift wie Institution.

Wenn eine Institution wie die Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften eine Festschrift in Auftrag gibt, darf diese unter keinen Umständen schönfärberisch ausfallen. Alles andere wäre ein Verrat an den Idealen der Wissenschaft und an der Selbstreflexion sowieso, die insbesondere die Geisteswissenschaften als ihr ureigenes Metier betrachten. Gleiches gilt natürlich für die Rezension der Auftragsarbeit, zumal wenn sie im «Bulletin» der SAGW erscheint. Auch sie sollte kritisch sein, nicht minder als die Politik, welche die Akademie im ökonometrisch fixierten Wissenschafts- und Forschungssystem betreibt (Output, Impact et cetera) – wer, wenn nicht sie, nennt die Dinge und Probleme beim Namen?

So viel Wille zur Kritik

So viel Wille zur Kritik überall, man könnte direkt nervös werden. Monika Gisler aber liess sich nicht aus der Ruhe bringen. Unterstützt von zwei Mitarbeitern hat die Historikerin die Geschichte der 1946 gegründeten SAGW chronologisch, solid und informativ zu Papier gebracht (inwiefern das prominent als mitwirkend genannte Center for Higher Education and Science Studies der Universität Zürich zum Buch beigetragen hat, wird nicht ersichtlich). Dabei fördert die Autorin Erstaunliches zutage. In der republikanischen Schweiz entstand nicht nur die SAGW, sondern entstanden auch die anderen Akademien vergleichsweise spät. Sie versammeln nicht primär «Exzellenz» wie ihre europäischen Schwestern, die von Königen und Fürsten gegründet worden sind, sondern stehen im Dienst auch nichtakademischer, zivilgesellschaftlicher Vereinigungen, die sich etwa mit Geschichte und Kunst beschäftigen. Wissenschaft für die «Res publica».

Ferner kämpfte die zunächst rein geisteswissenschaftliche Akademie von Anfang an für ein besseres Standing der Geisteswissenschaften, für Anerkennung und mehr Mittel – daran hat sich seither nicht viel geändert. So reflexiv die Humanities sich auch erweisen: Wenn es an das Eingemachte geht, also um das letzte Wort in der Forschungspolitik oder den letzten Franken, wenden Wissenschaftsverwaltung und Bundesräte sich dann doch der Atom- oder Nanotechnik zu. Bildungsgespräche über Kunst und Kultur am Kaminfeuer mögen erbaulich sein, sind halt aber auch verzichtbar – «It’s the economics, stupid!», wie weiland Bill Clintons Wahlkampfslogan lautete.

Allerdings – auch dies belegt die Institutionengeschichte – waren die elitären Geisteswissenschaftler der ersten Stunde bestens mit dem wissenschaftspolitischen und naturwissenschaftlichen Establishment verknüpft, ja sogar Teil davon. So hat die Akademie etwa federführend an der Entstehung des Schweizerischen Nationalfonds mitgewirkt, und der noch am Ende des 20. Jahrhunderts bedeutende Wissenschaftsrat forderte wiederholt die Aufwertung der Geistes- und dann auch der Sozialwissenschaften. Letztere wurden von der Akademie nur zögerlich aufgenommen.

Erfolg geht mit  Einbindung in die staatliche Verwaltung einher

Selbst im Kontext des rasanten Ausbaus des gesamten Wissenschafts- und Forschungssystems seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bleibt die Geschichte der SAGW eine Erfolgsgeschichte – auch dies zeigt das Buch. Eindrücklich sind die Publikationen und Podien, mit denen die Akademie Geisteswissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler miteinander ins Gespräch gebracht und Brücken zwischen Universität und Gesellschaft gebaut hat, eindrücklich selbstredend sind auch die unter ihrer Ägide realisierten Grossforschungen, etwa die nationalen Wörterbücher oder das sozialwissenschaftliche Kompetenzzentrum Fors.

Die Dachorganisation SAGW ist nicht nur stetig gewachsen, vereint immer mehr Mitgliedsgesellschaften und verteilt immer mehr Gelder, sie hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten als sogar witzige Anwältin der Humanwissenschaften profiliert, welche die wachsende Schar technokratiegläubiger Politiker und Politikerinnen vom beinahe unbezahlbaren Wert des Reflexionswissens zu überzeugen versucht. «It’s the humanities, stupid!», hiess die charmante Kampagne, die den schlagenden Nachweis führte, dass ohne das von allen Menschen praktizierte, aber von den Geisteswissenschaften kultivierte Verstehen der symbolisch verfassten Welt gar nichts gehe.

Strategisch setzt die SAGW im 21. Jahrhundert voll auf die Modernisierungsschiene. Sie hat den ökonomistischen Innovationsbegriff relativiert, der vom Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation SBFI favorisiert wird, indem sie den umfassenden Nutzen der Humanwissenschaften ins Feld führt – am Anfang steht eben das Verstehen. Gisler erwähnt auch dies, diskutiert die SAGW-Strategie aber nicht. Man müsste das Paradox aufzeigen: Der Erfolg der Akademie geht mit ihrer Einbindung in die staatliche Verwaltung einher. Sie erhält Geld vom SBFI und muss diesem zugleich Rechenschaft ablegen für ihr Tun.

Man fragt sich: Hätte die Akademie beispielsweise den Spielraum, auf die immer sichtbarer werdenden Nachteile der offiziell unbestrittenen Open-Access-Politik für die Humanwissenschaften hinzuweisen? Dann wäre sie plötzlich antizyklisch antimodern. Wenn die Akademie der immer weiter um sich greifenden Projektifizierung und «Wettbewerbisierung» der Forschung den Kampf ansagt – und das tut sie –, erinnert sie ein wenig an Don Quijote, der gegen die Windmühlen anritt.

Am besten bleibt die Akademie bei ihren Leisten

Monika Gislers Geschichte der SAGW ist informativ und nicht unkritisch – ab und an weist die Autorin auf einen blinden Fleck hin –, aber auch ziemlich konventionell. Die meisten Illustrationen geben Statuten und offiziöse Schreiben wieder, die aufgrund ihres bescheidenden Alters nicht mit der Aura des Geschichtlichen aufwarten können. Die zahlreichen Boxen, die den Lauftext auflockern sollen, sind entweder Persönlichkeiten gewidmet, deren Kurzbiografien auch auf Wikipedia zu finden sind, oder SAGW-Unternehmen und weiteren Organisationen, die quasi in ihren eigenen Worten, wie sie sich auf ihren Webseiten finden könnten, porträtiert werden. So erfährt der Leser etwa, dass sich die «Gender Studies in der internationalen Praxis als anerkannter, zukunftsorientierter Wissenschaftszweig» etabliert hätten. Gut zu wissen.

Stichwort Zukunft: Zwei Ratschläge gibt das Buch der Jubilarin mit auf den Weg. Sie könnte ihre Stimme «durchaus noch lauter» erheben, um «Sinn und Zweck der Geistes- und Sozialwissenschaften wirkmächtig zu vermitteln», und sie habe in unserer «postfaktischen Ära», in der alle Wissenschaften am Pranger stünden, zu zeigen, dass diese «eine genuin soziale Angelegenheit» seien. Wiederum: Gut zu wissen, aber was heisst das und was war schon wieder der Sinn und Zweck der Humanities? Die Welt war wohl schon immer postfaktisch. Am besten bleibt die Akademie bei ihren Leisten: dem Kritisieren. Da gibt es immer genug zu tun, und sinnvoll ist die Tätigkeit obendrein auch.

Zum Autor der Rezension

Urs Hafner ist freischaffender Historiker, Autor und Journalist. Zuletzt erschien von ihm das Buch «Forschung in der Filterblase. Die Wissenschaftskommunikation der Schweizer Hochschulen in der digitalen Ära» (2020, Hier und Jetzt, Baden), demnächst «Kinder beobachten. Das Neuhaus und die Anfänge der Kinderpsychiatrie, Bern 1937–1985» (2022, Chronos, Zürich).

Angaben zum rezensierten Buch

Gisler, Monika (2022): Zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik – 75 Jahre Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften. Unter Mitwirkung von Samuel Amstutz, Christian Leder und Mitarbeitenden des Center for Higher Education and Science Studies der Universität Zürich, Schwabe Verlag, Basel.

Das Buch ist Open Access online im Volltext verfügbar: https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4421-7. Es ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz – CC BY 4.0.

Titelbild

Statuten der Schweizerischen Geisteswissenschaftlichen Gesellschaft von 1947, erste Seite (Schweizerische Nationabibliothek).