Familienergänzende Betreuung, Erziehung und Bildung von Kindern – ein Generationenprojekt in privater und staatlicher Verantwortung
20.11.2008 - 21.11.2008
Aula gibb,
SAGW
Gemäss neuesten Statistiken des Bundesamtes für Statistik (BfS) wird jedes zweite Kind unter fünf Jahren familienergänzend betreut. Rund zwei Drittel der Mütter mit Kindern unter fünf Jahren sind, wenn auch oft mit einem teilzeitlichen Pensum, erwerbstätig. Damit stellt sich heute nicht die Frage, ob familienergänzende Betreuung im Vorschulalter grundsätzlich gut oder schlecht ist, sondern wie sie im Interesse des Kindes und aller andern Beteiligten ausgestaltet und organisiert werden muss. Es gilt also, die zahlreichen Initiativen und Aktivitäten zur so genannten «frühkindlichen Betreuung» im Kontext eines umfassenden, sozio-kulturellen Wandels differenziert und kritisch zu analysieren. Als übergeordnete Orientierung bietet sich eine Perspektive an, in der die Gestaltung der Generationenbeziehungen in Verwandtschaft, in Betrieben und Organisationen, in Staat und der Gesellschaft im Zentrum steht.
Die familienergänzende Kinderbetreuung steht im Spannungsfeld wirtschaftlicher, sozialer, individueller – insbesondere des Kindes – und kultureller Interessen und ist Ausdruck
- des demographischen Wandels und der dadurch veränderten Kinderwelten;
- des veränderten Verständnisses der Alters- und Geschlechterrollen;
- eines Wandels des Verhältnisses zwischen dem Persönlichen und Privaten (Familie) einerseits und dem Öffentlichen (Staat, Wirtschaft und Kultur) anderseits;
- einer zunehmenden Professionalisierung der nicht-elterlichen Betreuung im Zuge eines quantitativen und qualitativen Bedeutungsverlustes von Verwandtschaft und Nachbarschaft;
- einer in Europa und weltweit zu beobachtenden Bildungsrevolution, welche das Verständnis von Elternschaft und das Verhältnis von Familie und Gesellschaft verändert.
Die familienergänzende Kinderbetreuung eröffnet Chancen: Alle Kinder, unabhängig von sozialer Herkunft und Geschlecht, können im Hinblick auf eine gesunde Entwicklung, die Entfaltung ihrer Persönlichkeit und ihrer Fähigkeiten, von qualitativ guten familienergänzenden Angeboten Nutzen ziehen. Eine vom Herkunftsmilieu unabhängige Bildung erhöht deshalb die Chancengleichheit. Zusatzeinkommen, bessere Karrierechancen, höhere Steuereinnahmen und Sozialabgaben bieten Vorteile für die Volkswirtschaft und die einzelnen Betriebe. Die verbesserte Vereinbarkeit von Familie und Beruf leistet einen Beitrag zur Gleichstellung der Geschlechter. Kinder und Familien mit einem Migrationshintergrund werden frühzeitig und besser in die Gesellschaft integriert.
Die familienergänzende Kinderbetreuung birgt aber auch Risiken: Das Kind kann zum aufzubewahrenden Störfaktor degradiert werden, den es wegzuorganisieren gilt. Es besteht die Gefahr, dass die «strukturelle Rücksichtslosigkeit» der Arbeitswelt zementiert und zusätzlich legitimiert wird. Absehbare Risiken sind eine Entwertung der Familienzeit, ein Bedeutungsverlust der familiären Betreuungsarbeit und damit einhergehend eine Delegation von Verantwortung und Kompetenzen an externe, professionelle Stellen.
Die neue Realität mit ihren Chancen und Risiken erfordert die Formulierung und Be-gründung einer «Kultur des Aufwachsens» in gemeinsamer privater und öffentlicher Verantwortung, die sich am Kind, an dessen Rechten und Bedürfnissen – also an dessen Interessen – orientiert. Kurz, es stellt sich die Frage, welche Voraussetzungen für eine gute Kinderbetreuung geschaffen werden müssen, welche Rolle und Verantwortung den involvierten Akteuren – Familien, Professionellen, Wirtschaft und Staat – zukommen und welche Auswirkungen die aktuelle Bildungsrevolution auf das Generationengefüge hat.
Unter Berücksichtigung des gesamtgesellschaftlichen Kontextes ist mit Blick auf die zahlreichen Initiativen und Aktivitäten kritisch zu reflektieren und zu diskutieren, wo wir stehen und wohin wir wollen. Grundsätze, an welchen sich diese Diskussion und Reflexion orientieren sollen, finden sich hier (Link).