Als die Boulevardzeitung 20 Minuten im Jahr 2018 eine Umfrage zum «hässlichsten Haus der Schweiz» durchführte, befanden sich unter den Top 10 baukulturell wichtige Bauten wie das Wohnhochhaus am Triemlispital (1966) – ein eindrücklich konsequent entworfenes Hochhaus in Sichtbeton von Esther und Rudolf Guyer – oder das Konvikt in Chur (1969), das so wunderbare wie ikonische Hauptwerk von Otto Glaus. Beide Bauten sind heute als Denkmäler geschützt und in der Fachwelt hoch angesehen.
Nun könnte man alle Umfragen der genannten Zeitung vermutlich zu Recht als nicht repräsentative, unhaltbare und letztlich polemische Machwerke abtun. Interessant sind aber die Reaktionen der Fachleute auf die Umfrageresultate. So fordert etwa Peter Egli, Leiter Kommunikation und Marketing des Schweizer Heimatschutzes, auf Twitter: «Bessere Bildung im Bereich Baukultur für alle!» Rudolf Guyer, dessen mit Esther Guyer gemeinsam entworfenes Hochhaus von 19’000 Usern als «hässlichstes Gebäude der Schweiz» betitelt wurde, wird von 20 Minuten wie folgt zitiert: «Dass Laien das Gebäude hässlich finden, ist mir egal. Hauptsache, den anderen Architekten gefällt es.»
Eine verhängnisvolle Entwicklung, die seit der frühen Moderne verstärkt festzustellen ist.
Auch wenn neuere Tendenzen der Schweizer Architektur einen Hang zu motivischer Vielfalt, zu einer gewissen Lieblichkeit und nicht zuletzt zu einer etwas modischen Buntheit zeigen, verbleibt eine nicht zu leugnende Diskrepanz in der Wahrnehmung und Wertschätzung baukulturell wertvoller Gebäude zwischen Fachleuten und einem Grossteil der Bevölkerung. Eine verhängnisvolle Entwicklung, die seit der frühen Moderne verstärkt festzustellen ist.
Wir können uns der Architektur nicht entziehen
Nun ist es so, dass es diese Entwicklung nicht nur in der Architektur gibt. Auch das Theater und die bildenden Künste haben sich häufig sehr weit von der Idee des Volkstheaters und vom Schaffen allgemein verständlicher Kulturprodukte entfernt. Weil aber niemand gezwungen ist, ins Theater zu gehen oder länger als nötig vor einem Bild zu verweilen, ist diese Entwicklung zwar bedauerlich, aber bis auf den Verlust gesellschaftlicher Relevanz des Kulturbetriebs folgenlos.
Anders die Architektur. Architektur erzwingt mit der ihr innewohnenden, nicht zu ignorierenden Präsenz im öffentlichen Raum eine breite Wahrnehmung. Jede und jeder ist ihr ausgesetzt, sich ihr zu entziehen ist beinahe unmöglich. Sie ist nicht nur Teil des öffentlichen Raumes, sie bildet ihn. In diesem öffentlichen Charakter unterscheidet sich die Architektur grundlegend von anderen kulturellen Äusserungen. Wäre Architektur Musik, entspräche sie einer permanenten Beschallung des öffentlichen Raumes. Das Musikgenre würde in diesem Vergleich an öffentlichen Orten zumeist von Fachleuten, in privateren Wohngebieten mehrheitlich von Laien ausgewählt.
Architektursprache tastend weiterentwickeln
Aus diesem zwangsläufig öffentlichen Charakter erwächst der Architektur eine besondere Verantwortung – die im fachlichen Diskurs jedoch weder Thema noch Argument ist. Zumindest in einem gewissen Mass müssten Architektinnen und Architekten verpflichtet sein, eine allgemein verständliche Architektursprache zu entwickeln, um einer breiten Masse ein positives Erleben des Gebauten zu ermöglichen.
Was uns aber bleibt, wäre eine Rückbesinnung auf Architekturen, die nach hundert oder mehr Jahren [...] eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz geniessen
Freilich ist das in einer pluralistischen, mobilen und offenen Gesellschaft keine einfache Aufgabe. Einen klassischen homogenen Mittelstand mit einem einheitlichen Wertekanon gibt es (glücklicherweise) kaum mehr. Was uns aber bleibt, wäre eine Rückbesinnung auf Architekturen, die nach hundert oder mehr Jahren noch immer – oder wieder – eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz geniessen, und ein langsames, tastendes Weiterentwickeln dieser Architektursprachen. Bei einer Strategie der kleinen Schritte würden Fehlentwicklungen früh – und bevor sie grösseren Schaden in unserer Lebenswelt anzurichten vermögen – erkannt und korrigiert.
Kulturellen Anspruch mit Verständlichkeit kombinieren
Eine solche Architektur würde einen affirmativen und den Wünschen und Sehnsüchten von Laien zugewandten Zugang zum Entwerfen und Bauen bedingen. Eine Architektur der Mitte: Irgendwo zwischen notwendigem Fortschreiten und vorsichtigem Bewahren, zwischen «high culture» und «low culture», zwischen kulturellem Anspruch und allgemeiner Verständlichkeit. Hierbei nicht Mittelmass, sondern eine Architektur von Mitte und Mass auf höchstem Niveau zu schaffen, würde als grosse Kunst Anerkennung finden, und die Sehnsucht nach Radikalität und Einzigartigkeit ehrgeiziger Architektinnen und Architekten ablösen. Die Forderung nach baukultureller Erziehung der Bevölkerung zum Schutz der besten Bauten unserer Generation würde in Zukunft vielleicht obsolet – und das trotzige Beharren auf die Anerkennung der Fachwelt könnte ersetzt werden durch die Genugtuung darüber, dass eine breite und fachlich nicht gebildete Masse unseren Bauten heute und in Zukunft mit Wertschätzung und Zuneigung begegnet.
Zum Autor
Lukas Imhof ist Architekt und Inhaber des Architekturbüros Lukas Imhof Architektur GmbH. Von 2006 bis 2012 forschte er am Lehrstuhl Miroslav Šik der ETH Zürich zu Wohnkomfort. «Midcomfort» postuliert die Wiederentdeckung des wohnlichen Bauens in Form von zeitgenössischen Interpretationen der Reformarchitekturen des 20. Jahrhunderts.
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