Hafermilch, Geschnetzeltes auf Basis von Erbsenprotein, Insektenriegel: All dies sind Produkte, die mit dem Versprechen einer nachhaltigen Ernährung einhergehen. Seit einiger Zeit finden wir sie in immer grösserer Anzahl und Vielfalt in den Regalen der marktführenden Schweizer Detailhändler Coop und Migros. Für die Start-ups hinter diesen Lebensmittelinnovationen ist das Angebot in Supermarktketten ein Meilenstein, weil ihre Produkte für eine grosse Kundschaft zugänglich und sichtbar werden. Was hingegen unsichtbar bleibt ist der lange Weg, den die Produkte von der Idee bis zum Supermarktregal zurücklegen, ermöglicht durch ein grosses Netzwerk von Investorinnen, Beraterinnen, kleinen Detailhändlern und weiteren Akteuren. Diesen Weg möchte ich näher betrachten.
Ökologische Fragilität als Geschäftsmöglichkeit
Die Entwicklung und Vermarktung innovativer Lebensmittelprodukte ist mit hohen Anfangsinvestitionen verbunden. Damit Food Start-ups diese decken können, sind sie auf finanzkräftige und risikobereite Inverstoren angewiesen. Die Food Entrepreneurs erzählen deshalb auf zahlreichen Plattformen, von Websites bis Ernährungsmessen, wie ihre Produkte zu Nachhaltigkeit, Ernährungssicherheit und so zu einer besseren Zukunft beitragen. Diese Zukunftsvisionen oder Sustainable Food Futures sind gespickt mit technologischem Optimismus bis hin zum Utopismus.[1] Während die Narrative inhaltlich oft verantwortungsvolle KonsumentInnen in den Blick zu nehmen scheinen, sind die eigentlichen Hauptzielgruppen private Investoren wie Venture Capital-Investoren. Diese sollen dazu motiviert werden, für einen begrenzten Zeitraum hohe Summen in die Food Futures zu investieren – mit beachtlichen Risiken, aber grossen Gewinnmöglichkeiten.
Die ökologische Fragilität des Ernährungssystems eröffnet so neue Geschäftsfelder. Dabei werden Lebensmittelinnovationen als Ausdruck des technowissenschaftlichen Kapitalismus zu finanziellen Assets (Assetization). Als Asset gilt alles, das kontrolliert, gehandelt und über den Kapitalmarkt zum Einkommensstrom werden kann, dabei der Logik von Investition und Rendite folgend.[2] Wie wir uns ernähren, verwebt sich infolgedessen zunehmend mit den globalen Finanz- und Risikokapitalstrukturen.
Die Kraft von Storytelling
Food Entrepreneurs nehmen durch ihre Narrative direkten Einfluss auf den Produkt- und Kapitalmarkt. Anders gesagt, formen ihre im Hier und Jetzt erzählten Visionen tatsächlich die Zukunft. Dadurch werden Nahrungsmittelinnovationen Teil des Future Making, mit dem sich auch die Soziologie befasst. Jüngere Publikationen fokussieren insbesondere darauf, welche materiellen Formen Zukunft in der Gegenwart annimmt – beispielsweise als pflanzenbasierte Proteinprodukte? Dass Narrative Einfluss auf die Zukunft nehmen können, ist gut erforscht. Analysebedarf besteht hingegen bei der Frage, wie bestimmte Zukunftserzählungen soziale Autorität entfalten, Gesellschaften verändern und Zukunft formen. Angelehnt an Goffmans dramaturgischen Ansatz in der Soziologie schlägt eine Gruppe von Forschenden vor, das Future Making durch Narrative als dramaturgischen Akt mit Elementen einer Bühnenperformance zu verstehen.[3] Mit ähnlichen Fragen beschäftigen sich seit Kurzem auch die Wirtschaftswissenschaften: So untersucht die Theorie der Narrative Economics, wie von vielen Menschen geteilte und verbreitete Erzählungen ökonomisches Verhalten beeinflussen.[4]
Es ist entscheidend, dass die Geistes- und Sozialwissenschaften Inhalt, Verbreitung und Assetization der Sustainable Food Futures-Narrative kritisch erforschen.
Nachhaltige Lebensmittelinnovationen erhalten derzeit immense Medienaufmerksamkeit, verzeichnen global wachsende Umsätze und profitieren teilweise trotz jungen Alters von einem beachtlichen Markenwiedererkennungswert. Es ist entscheidend, dass die Geistes- und Sozialwissenschaften Inhalt, Verbreitung und Assetization der zugrundeliegenden Sustainable Food Futures-Narrative kritisch erforschen, alternative Möglichkeiten für Lebensmittelinnovationen aufzeigen und so zum öffentlichen Diskurs über ein gerechtes und nachhaltiges Ernährungssystem der Zukunft beitragen. Die Zeit ist jetzt.
Der Text ist eine redigierte und übersetzte Version des längeren, englischen Beitrags der Autorin im SAGW-Bulletin 2/21 «Konsum | Consommation».
Literatur
[1] Schneider, Tanja (2018): Promising sustainable foods: Entrepreneurial visions of sustainable food futures, in: Phillipov, Michelle & Katherine Kirkwood (Eds.): Alternative Food Politics: From the Margins to the Mainstream, London, pp. 75-94.
Sexton, Alexandra, Tara Garnett & Jamie Lorimer (2019): Framing the future of food: The contested promises of alternative proteins, in: Environment and Planning E: Nature and Space, 2,1, pp. 47-72. https://doi.org/10.1177/2514848619827009
[2] Birch, Kean & Fabian Muniesa (2020): Assetization: Turning Things into Assets in Technoscientific Capitalism, Boston. https://doi.org/10.7551/mitpress/12075.001.0001
[3] Oomen, Jeroen, Jesse Hoffman & Maarten A. Hajer (2021): Techniques of futuring: On how imagined futures become socially performative, in: European Journal of Social Theory (online first). https://doi.org/10.1177/1368431020988826
[4] Shiller, Robert J. (2019): Narrative Economics: How Stories Go Viral and Drive Major Economic Events, Princeton.
Zur Autorin
Tanja Schneider ist Assoziierte Professorin für Technologiestudien an der School of Humanities and Social Sciences der Universität St. Gallen und Research Affiliate am Institute for Science, Innovation and Society (InSIS) der Universität Oxford. Ihre Forschung konzentriert sich auf die Überschneidung von Wissenschafts- und Technikforschung mit Wirtschaftssoziologie. Ihre Lehr- und Forschungsgebiete sind Wissenschafts- und Technikforschung, Wirtschaftssoziologie und die Soziologie des Essens und der Ernährung. Aktuelle Themenschwerpunkte sind Digitalisierung, Finanzialisierung, Innovation, Nachhaltigkeit und Digital Health.
Titelbild
Aus dem Bulletin 2/21 «Konsum | Consommation»
Open Access
Dass ist eine Open-Access-Publikation, lizenziert unter CreativeCommons CC BY-SA 4.0.
Die Blogbeiträge können Meinungsäusserungen der AutorInnen enthalten und stellen nicht grundsätzlich die Position der jeweiligen Arbeitgeberin oder der SAGW dar.