Daniel Scheidegger, Präsident SAMW
Wir Mediziner werden geschult, Krankheiten zu suchen. Bei den immer besseren bildgebenden Verfahren und anderen neuen Analysemöglichkeiten, steigt logischerweise die Zahl pathologischer Befunde. Diese führen zu weiteren Abklärungen und eventuell Behandlungen, auch wenn der Patient keine diesbezüglichen Beschwerden hatte. Die Begründung für diesen medizinischen Aktivismus ist entweder, man möchte nichts verpassen, oder, je früher etwas diagnostiziert wird, umso grösser seien die Heilungschancen.
Sparen auf Kosten der Bildung
Als Gesellschaft können wir uns diese Art der Medizin sehr bald nicht mehr leisten. Die Kosten für das Gesundheitswesen sind sogenannte «gebundene Ausgaben»: jeder Kanton muss am Ende des Jahres 55 Prozent der im stationären Bereich angefallenen Kosten für seine Bürgerinnen und Bürger bezahlen. Das heisst, bei Sparübungen trifft es immer die anderen Bereiche; bei Kultur, Bildung und den sozialen Aufgaben kann das Budget gekürzt werden.
Aus der Forschung der Geistes- und Sozialwissenschaften wissen wir, dass der Beitrag des Gesundheitssystems für die Gesundheit der Bevölkerung nur etwa 10 bis 15 Prozent beträgt. Kultur und Bildung zusammen haben einen grösseren Einfluss. Bei den erwähnten Sparübungen wird also, wenn es um unsere Gesundheit geht, am falschen Ort gespart!
Geistes- und Sozialwissenschaften sind gefordert
Die Sozial- und Geisteswissenschaften – oder namentlich alle 61 Fachgesellschaften der SAGW – können mithelfen, dass in der Bevölkerung ein Umdenken stattfindet. Zuallererst müssen wir vermehrt in die Erhaltung der Gesundheit investieren d. h. die Dinge anpacken, von denen wir wissen, dass sie krank machen. Wir müssen aber auch von der Vorstellung wegkommen, alle Krankheiten seien heilbar, die Alterung könne aufgehalten werden und wir würden gar unsterblich. Wir brauchen neue Denkweisen und Narrative – wir brauchen die Geistes- und Sozialwissenschaften.
In ihrer Bemühung, sich immer mehr zu spezialisieren, hat die Medizin angefangen, auch Fächer wie Geschichte oder Ökonomie einzuverleiben: Medizingeschichte und Gesundheitsökonomie sind heute teilweise in die Medizinischen Fakultäten eingebunden. Das ist Unsinn, weil damit der kritische Blick von aussen verloren geht. Um das Gesundheitswesen neu zu gestalten, brauchen wir «neutrale» Soziologen, Historikerinnen und Ökonomen mit einem breiten Horizont. Es braucht neue Ideen, das Problem ist komplex und es wird keine einfachen Lösungen geben. Aber wenigstens ist das Ziel klar: ein nachhaltiges Gesundheitssystem für eine Gesellschaft, die befähigt ist, Gesundheit zu erhalten, aber auch lernt, mit Krankheiten umzugehen.
Ein krisenresistenter Wirtschaftszweig
Meine Überlegungen werden nicht allen gefallen, denn das Gesundheitswesen, wie es heute funktioniert, ist ein ganz wichtiger Wirtschaftszweig geworden – dazu noch krisenresistenter. Kein Wunder, denn das Geld fliesst durch unsere Steuern und die Hoheit über die Definition einer Krankheit haben die Leistungserbringer. Zugespitzt heisst das: Wir machen immer mehr Leute zu Kranken, um in unserem Land eine Vollbeschäftigung zu erreichen. Wer dies wirklich will, soll wenigstens so ehrlich sein und das Gesundheitswesen als Wirtschaftsförderprogramm bezeichnen.