Der Nachwuchspreis Gold geht an die Historikerin Sarah-Maria Schober (Universität Zürich); Silber gewinnen der Psychologe und Neurowissenschaftler Stuart Watson (Universität Zürich), die Philosophin Piera Filippi (Universität Zürich) und der Philosoph Luca Gasparri (Universität Lille); Bronze die Soziologin Frida Lyonga (Universität Basel).
Die Gewinneraufsätze 2023 befassen sich mit der Ausbildung von Rassentheorien im 18. Jahrhundert, der Evolution von sprachlicher Arbitrarität und dem Einfluss von Migrationserfahrungen auf Homophobie.
Die Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) zeichnet jedes Jahr drei herausragende wissenschaftliche Aufsätze junger Forscherinnen und Forscher mit dem Nachwuchspreis aus. Die zehnköpfige Jury wählt die Preisträgerinnen und Preisträgerin in einem dreistufigen Evaluationsverfahren aus. Die Gewinnerinnen und Gewinner erhalten insgesamt 18 000 Franken.
Gold: Das menschliche Haar in der Genese von Rassentheorien im 18. Jahrhundert
In Zusammenhang mit Rassismus und der Kategorisierung von Menschen sprechen wir in der Regel von Hautfarben. Bei der Entstehung von Rassentheorien in der Frühen Neuzeit spielten jedoch neben Hautfarbe und Knochenform auch Haare eine wichtige Rolle. Das belegt Sarah-Maria Schober im preisgekrönten Aufsatz «A Hairy Tale: Eighteenth-Century Strands of Albinism and Race» anhand der Haarsammlung und der Schriften des Anthropologen Johann Friedrich Blumenbach.
Blumenbach setzte sich auch mit Albinismus auseinander, der bis ins späte 18. Jahrhundert als rein aussereuropäisches Phänomen der «white negroes» verstanden wurde. Anders als seine Zeitgenossen deutete Blumenbach den Albinismus nicht als normale menschliche Varietät, sondern als Krankheit. So stellte das Phänomen ausserordentlich heller Haare seine Theorie von klassifizierbaren menschlichen Rassen nicht infrage, sondern bestärkte sie.
Blumenbachs Forschungsarbeiten sind somit nicht nur ein Beispiel für die disziplinäre Ausdifferenzierung von Anatomie und früher Anthropologie im 18. Jahrhundert, sondern belegen auch die Bedeutung von Wissenschaft für die Entstehung und Festigung rassistischer Denkmuster.
Würdigung der Jury
«Die Autorin untersucht eine gesellschaftlich aktuelle Fragestellung mit überraschenden historischen Quellen. Anhand eindrücklicher Beispiele weist die Autorin nach wie wissenschaftliche Praktiken die Abspaltung einer eigenständigen Anthropologie von der früher dominierenden Anatomie vorantrieben. Darüber hinaus ist ihr Beitrag ein Beispiel für hervorragende wissenschaftliche Arbeit, die dank zugänglicher sprachlicher Form und allgemeinverständlicher Argumentation auch ein nichtwissenschaftliches Publikum erreicht.» (Auszug aus dem Protokoll der Jury)
Preisträgerin: Sarah-Maria Schober
Sarah-Maria Schober ist Oberassistentin am Historischen Seminar der Universität Zürich. Ihre Dissertation «Gesellschaft im Exzess. Mediziner in Basel um 1600» schloss sie 2017 in Basel ab. Es folgten Stationen in Westaustralien und Oxford. Sie forscht unter anderem zur Geschichte des Ekels, zu «Human Remains» und frühen Rassentheorien und zur Geschichte von Konsum und Kommerzialisierung. In ihrem aktuellen Buchprojekt «The Civet Cat. Producing Exotica in Early Modern Europe» erforscht Schober die Geschichte des Duftstoffs Zibet und seiner Produzentin, der Zibetkatze.
Schober, Sarah-Maria (2022): A Hairy Tale: Eighteenth-Century Strands of Albinism and Race, in: KNOW. A Journal on the Formation of Knowledge 6,1, S. 177–213. https://doi.org/10.1086/718478
Silber: Ein konzeptioneller Rahmen zur Erforschung der Evolution von sprachlicher Arbitrarität
Es ist ein entscheidendes Merkmal von Sprache, dass sie arbiträr ist, dass die Form der Wörter also keine Ähnlichkeit zu ihrer Funktion oder ihrer Bedeutung haben müssen. Sprache ist deshalb so ausdrucksstark, weil ihre Sprecherinnen und Sprecher fähig sind, diese Form-Funktions-Assoziationen zu leisten.
Die fundamentale Wichtigkeit von Arbitrarität ist breit erforscht, ihre evolutionären Ursprünge hingegen liegen noch weitgehend im Dunkeln. In ihrem ausgezeichneten Aufsatz «Optionality in animal communication: a novel framework for examining the evolution of arbitrariness» geht ein interdisziplinäres Autorinnenteam der Frage nach, bis zu welchem Grad Menschen die Fähigkeit sprachliche Arbitrarität zu bewältigen mit Tieren teilen. Die Autorinnen und Autoren schlagen einen neuen konzeptionellen Rahmen vor, der auch auf nicht-menschliche Tiere anwendbar ist und auf die Fähigkeit fokussiert, unterschiedliche Signale mit einer Funktion in Verbindung zu bringen (Optionalität).
Indem sie zeigen, dass Tiere das Vermögen zur Optionalität besitzen, können die Autorinnen belegen, dass es eine evolutionäre Kontinuität zwischen Tieren und Menschen im Hinblick auf ihre Fähigkeit zu sprachlicher Arbitrarität gibt. Sie liefern so grundlegend neue Erkenntnisse nicht nur zu tierlicher Kommunikation, sondern auch allgemein zur Evolution von Sprache.
Würdigung der Jury
«Die Autor·innen präsentieren eine ausgezeichnet recherchierte und detaillierte Arbeit zu einer zentralen Frage. Mit dem Konzept der Optionalität gelingt es den Autor·innen, erstaunliche Parallelen zwischen tierischer und menschliche Kommunikation aufzuzeigen und die Resultate der Arbeit bieten grosses Anschlusspotentital. Die Studie stellt ein mustergültiges Beispiel dar für wissenschaftliche Arbeit, die ihren Erfolg massgeblich ihrem interdisziplinären Ansatz verdankt.» (Auszug aus dem Protokoll der Jury)
Preisträger·innen: Stuart Watson, Piera Filippi, Luca Gasparri
Stuart Watson ist Postdoc am Institut für Vergleichende Sprachwissenschaft der Universität Zürich. Zuvor absolvierte Stuart seinen Master in Psychologie an der University of York und promovierte in Psychologie und Neurowissenschaften an der University of St. Andrews. An der Schnittstelle von Psychologie, Biologie und Linguistik untersucht er die Denk- und Verhaltensweisen von nichtmenschlichen Tieren wie Affen, Vögeln und Mungos, um die evolutionären Wurzeln des menschlichen Verstandes zu ergründen. Derzeit erforscht er in seiner Arbeit vor allem die evolutionäre Kontinuität zwischen den verhältnismässig starren Kommunikationssystemen von Tieren und der unglaublich offenen und flexiblen menschlichen Sprache.
Piera Filippi hat ihre Ausbildung in Sprachphilosophie und Philosophie des Geistes (Doktorarbeit) mit Forschung in den Bereichen Psycholinguistik, Verhaltensbiologie und Akustik (Postdoc) an sieben europäischen Universitäten verbunden und so die herausragende Fähigkeit erworben, verschiedene Aspekte der Sprachevolution mit einem echten interdisziplinären Ansatz zu analysieren. Der breite, interdisziplinäre Ansatz ihrer Arbeit und ihre ausgeprägte Kompetenz in verschiedenen Forschungsmethoden spiegeln sich in der Vielfalt und Anzahl ihrer Veröffentlichungen wider. Bei ihrer Arbeit verfolgt sie zudem stets das Ziel, Nichtfachleuten den Zugang zu wissenschaftlichen Inhalten mittels Radiointerviews, Büchern und Wissenschaftsfestivals zu erleichtern.
Luca Gasparri ist Forscher am Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) und Mitglied des Forschungslabors Savoirs, Textes, Langage (STL) der Universität Lille. Er forscht an der Schnittstelle zwischen der analytischen Sprachphilosophie und der Semantik natürlicher Sprachen. Seine Studien absolvierte er in Italien (San Raffaele), in den USA (Harvard, MIT) und er doktorierte am Institut Jean Nicod in Paris. Bevor Luca zum CNRS kam, war er Alexander von Humboldt Fellow am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin sowie Postdoc am Philosophischen Seminar der Universität Zürich, wo er auch am NFS «Evolving Language» mitarbeitete.
Watson, Stuart K., Piera Filippi, Luca Gasparri et al. (2022): Optionality in animal communication: a novel framework for examining the evolution of arbitrariness, in: Biological 97,6, S. 2057–2075. https://doi.org/10.1111/brv.12882
Bronze: Veränderungen in homophoben Einstellungen nach Migrationserfahrungen
Im prämierten Aufsatz «How Context Matters: Change and Persistence of Homophobic Attitudes among Cameroonian Migrants in Switzerland» untersucht die Soziologin Frida Lyonga wie sich die Einstellungen von Kamerunern und Kamerunerinnen zu Homosexualität verändern, nachdem sie in die Schweiz migriert sind. Soziale Einstellungen sind in der Soziologie ein etabliertes Forschungsfeld; über den Einfluss der Diasporaerfahrung auf die Haltung gegenüber Homosexualität weiss man allerdings noch wenig.
Lyonga stützte sich in ihrem Aufsatz auf Daten aus 500 Fragebogen, sie führte Interviews und diskutierte mit einer Fokusgruppe. Die quantitative Auswertung ergab, dass jene Kameruner·innen, die in die Schweiz migriert sind, signifikant toleranter gegenüber Homosexualität eingestellt sind, als jene, die in ihrem Heimatland leben. Mittels einer qualitativen Datenanalyse identifiziert die Autorin vier Gründe für diesen Wandel: Erstens führten eigene Diskriminierungserfahrungen in der Schweiz dazu, die eigenen Ressentiments gegenüber Minderheiten zu reflektieren. Zweitens stellt das Entwicklungsgefälle zwischen Europa und Afrika die Wichtigkeit von Homosexualität als gesellschaftliches Problem infrage. Drittens widerlegt ein vermehrter direkter Kontakt mit homosexuellen Menschen stereotype Zuschreibungen. Viertens führen Nichtdiskriminierungs-Regeln am Arbeitsplatz zur Einübung von Toleranz.
Würdigung der Jury
«Frida Lyonga’s Studie zeigt, wie sich Einstellungen zur Homosexualität in Abhängigkeit von Kontexten stabilisieren oder verändern. So zeigt die Studie nicht nur, dass Kamerunerinnen und Kameruner mit Migrationshintergrund in der Schweiz deutlich weniger homophob sind als Kamerunerinnen und Kameruner, die in ihrem Heimatland leben. Indem sie die Kontextabhängigkeit von Einstellungen verdeutlicht, widerlegt die Studie auch existierende kulturelle Stereotypen, die von einer grundlegenden Andersartigkeit von Kulturen ausgehen. Die Arbeit bietet so eine differenzierte, kritische Sichtweise ohne koloniale Färbung. Die Autorin zeigte grossen Mut und persönliches Engagement unter schwierigsten Forschungsbedingungen zu einem gesellschaftlich relevanten Thema. » (Auszug aus dem Protokoll der Jury)
Preisträgerin: Frida Lyonga
Frida Lyonga ist Dokorandin am Departement Gesellschaftswissenschaften und am Zentrum für Afrikastudien der Universität Basel. Schwerpunktmässig forscht sie zu den Rechten von Homosexuellen und der Einstellung zur Homosexualität unter Afrikanern. Ihre aktuelle Forschung wird durch das G3S-Start-up-Stipendium der Universität Basel unterstützt. Frida hat einen Masterabschluss in Medien- und Kommunikationswissenschaften und in Filmwissenschaften von der Universität Stockholm und einen Bachelorabschluss in Journalismus und Mass Communication von der Universität Buea, Kamerun. Ihre Leidenschaft gilt der Forschung, die sich mit sensiblen Themen befasst, insbesondere mit Homophobie, Gender, medialer Repräsentation und Migration.
Lyonga, Frida (2022): How Context Matters: Change and Persistence of Homophobic Attitudes among Cameroonian Migrants in Switzerland, in: Sexes 3,4, S. 515–532. https://doi.org/10.3390/sexes3040038
121 Kandidaturen sind für den Nachwuchspreis 2023 eingegangen
Die Kandidaturen decken mehr als 20 Schweizer Universitäten, Hochschulen sowie weitere Forschungsinstitutionen ab. Von den Disziplinen sind die Politikwissenschaften mit 20 Eingaben am stärksten vertreten, gefolgt von der Psychologie mit 18 Eingaben. Drei Viertel der eingereichten Aufsätze sind auf Englisch verfasst, das weitere Viertel auf Französisch (16 Prozent), Deutsch (7 Prozent) und Italienisch (2 Prozent).
Die Preisverleihung fand am 2. Juni 2023 im Rahmen der Jahresversammlung der SAGW in Bern statt.