Sprache ist eines der wichtigsten – wenn nicht sogar das wichtigste – Merkmal menschlicher Existenz:
- Sprache ist zentral für Kommunikation: auch wenn wir viel Information über Gerüche, Berührungen oder Aussehen austauschen, so steht das doch in keinem Verhältnis zur Menge und Präzision der Information, die wir fast pausenlos mit Sprache kommunizieren – sei es durch Laute, Gebärden oder Schrift.
- Sprache ist ebenso zentral für unser Denken: sie hilft uns, Gedanken zu strukturieren, lose Assoziationen explizit zu machen, und Schlussfolgerungen zu ziehen. Damit prägt Sprache aber auch die Art und Weise, wie wir die Welt verstehen. Bis zu einem gewissen Grad beeinflusst sie sogar, wie wir die Welt wahrnehmen, was wir darin erwarten und was für Erinnerungen wir haben.
- Und schliesslich ist Sprache auch zentral für unsere soziale Organisation: die stetige Diversifizierung von Sprache über die Zeit hinweg ist ein universell hochbeliebtes Instrument, um Populationen, Ethnien und Gruppen abzugrenzen, ein Gefühl der Zugehörigkeit zu stiften, und den Zugang zu Spezialwissen zu regulieren.
In allen drei Bereichen durchläuft Sprache zur Zeit radikale Veränderungen:
- Digitale Medien und stets griffbereite Online-Wissensquellen verändern unsere Kommunikationsweisen. Anstelle des Ich und Du treten amorphe Quellen und Rezipienten: zum einen etwa Protestbewegungen ohne individuelle AnsprechpartnerInnen, aber immer häufiger auch sogar Maschinen bzw. KI-Systeme. Siri und Alexa sind Teil des Alltags geworden; KI-Systeme kommunizieren uns massgeschneiderte Angebote, von Netflix bis Coop@Home.
- Fortschritte in der Neurotechnologie erlauben Eingriffe in die Art und Weise, wie Sprache in unserem Hirn verarbeitet, geplant und gedacht wird. Bereits heute kann man mit Elektrokortikogrammen ablesen, was eine Sprecherin sich vorstellt zu sagen, ohne dass sie es in Laut oder Schrift auch äussert. Das eröffnet lang ersehnte Chancen für Neuroprothesen bei Sprachstörungen (z.B. nach einem Schlaganfall), bedroht aber die Privatheit unserer Gedanken. Das ist brandgefährlich und wirft fundamentale ethische Fragen auf.
- Die Globalisierung verändert die laufende Diversifizierung von Sprachen. Während Diversifizierung traditionell eng geprägt war von lokalen Ressourcen der Natur und damit verbundenen Beschränkungen über Gruppengrössen, unterliegt sie heute globalen Mechanismen, die die Vielfalt an ca. 7000 Sprachen in rasanter Weise zerstören. Dabei geht lokales Wissen verloren, etwa im nachhaltigen Umgang mit natürlichen Ressourcen, und Millionen von Menschen werden eines Teils ihrer Identitäten beraubt, oft begleitet von heftigen politischen Konflikten.
Evolutionsschritte mit noch unbekannten Folgen
Diese Veränderungen stellen uns vor gigantische Herausforderungen, vergleichbar mit den Konsequenzen, die die grossen Schritte unserer bisherigen Evolution hatten, etwa der aufrechte Gang oder die Erfindung der Landwirtschaft. Aber was bedeutet die aktuelle Evolution konkret? Was bedeutet die Abkehr vom Ich und Du in der Kommunikation, von der Privatheit innerer Sprachvorstellungen, von natürlichen Diversifizierungsprozessen? Wohin entwickeln wir uns? Und wohin wollen wir uns entwickeln?
Wie immer, wenn es um zentrale Merkmale einer Art geht, können wir diese Fragen nur wirklich beantworten, wenn wir ihre bisherige Evolution, ihre Phylogenese und Ontogenese, verstehen: Woher kommt und wie entwickelt sich unsere Fähigkeit, sprachlich zwischen Ich und Du zu kommunizieren, Sprache im Gehirn vorzustellen und zu verarbeiten, und sie von Generation zu Generation mit fortlaufender Diversifizierung weiterzugeben?
Spaltung der Fakultäten blockierte die Erforschung der Sprachevolution
Antworten gibt es bisher wenige; und die wenigen Versuche, die es gibt, sind hochgradig spekulativ und kaum überprüfbar. In der Tat ist die Evolution von Sprache nach wie vor unverstanden – manche AutorInnen reden gar von einem «Mysterium». Das liegt vor allem daran, dass die Forschung zu Sprache bis vor kurzem fast ausschliesslich ein Métier der Geisteswissenschaften war; Evolutions- und Hirnforschung aber das Thema der Naturwissenschaften. In der Tat hat sich seit der Spaltung der Fakultäten vor über 100 Jahren eine immer grössere Kluft zwischen einer «sprachlich-geisteswissenschaftlichen» und einer «mathematisch-naturwissenschaftlichen» Welt entwickelt, nicht nur an den Universitäten, sondern bis in die Primarschule. Menschliche Sprache wurde zunehmend als rein geistiges und kulturelles Phänomen studiert, fast immer in der Form einzelner Sprachen oder Texte. Das liess kaum noch Brücken übrig zur biologischen Erforschung der Kommunikation und Kognition anderer Arten. Der systematische Vergleich von Mensch und Tier ist aber natürlich der Schlüssel zur Evolutionsforschung.
Ein transdisziplinärer Ansatz eröffnet neue Perspektiven
Der neue NFS durchbricht diese Barrieren. Er entwickelt ein radikal transdisziplinäres Forschungsprogramm in noch nie dagewesenem Ausmass, vereint durch ein uneingeschränktes Commitment zu modernen Standards von wissenschaftlicher Replizierbarkeit, Transparenz und Data Science. Beteiligt sind über 30 Gruppen aus den unterschiedlichsten Fächern, verteilt über die ganze Schweiz: Sprachwissenschaft, Psychologie, Neurowissenschaft, Biologie, Anthropologie, Medizin, Genetik, Informatik, Geographie, Mathematik und Philosophie.
Gemeinsam erforscht und vergleicht der NFS die Kommunikation und Kognition von Mensch und Tier, besonders unserer nächsten Verwandten, den Menschenaffen. Andere Projekte untersuchen die neuronalen und computationellen Prozesse bei der Sprachverarbeitung, sowie die Chancen und Gefahren angewandter Neurotechnologie. Wiederum andere Teams erforschen, wie Kinder ihre Sprache in ganz unterschiedlichen traditionellen Kulturen, vom Amazonas bis zum Himalaja, lernen. Weitere Projekte erforschen Diversifizierungsprozesse und Variation in der Sprache, oder den Einfluss von Maschinen auf unsere Kommunikation und unser Denken. Querliegende Task Forces schliesslich erbringen methodische, technologische, philosophisch-konzeptuelle und ethische Expertise.
Geleitet wird der NSF von Balthasar Bickel (Sprachwissenschaft, Universität Zürich), Anne-Lise Giraud (Neurowissenschaft, Universität Genf) und Klaus Zuberbühler (Biologie, Universität Neuenburg).
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SAGW-Thema "Sprachen"