Frau Heidelberger, Sie haben zusammen mit Ihren Kolleg·innen bei Année Politique Suisse einen Legislaturrückblick verfasst: Wie werden wir uns an die 51. Legislatur erinnern?
Im kollektiven Gedächtnis werden wohl die grossen Krisen bleiben. Vor allem Covid-19 hatte sehr weitreichende Auswirkungen auf beinahe alle Politikbereiche. Und es ging Schlag auf Schlag weiter mit Ukrainekrieg und Energiekrise. Das Parlament hatte praktische keine Pausen zum Durchatmen.
Diese zahlreichen Krisen – dazu gehört auch der Niedergang der Credit Suisse – waren medial stark präsent. Welche parlamentarischen Beschlüsse sind unter dem medialen Radar durchgesegelt?
Zentral war sicherlich die Strafrahmenharmonisierung. Über dieses Geschäft wurde im Parlament am längsten debattiert. Sie bestand aus vielen verschiedenen Teilvorlagen und war inhaltlich komplex. Medial wurde praktisch nur eine Teilvorlage, die Revision des Sexualstrafrechts, aufgegriffen.
Bezüglich der Strafrahmenharmonisierung steht im Legislaturrückblick von Année Politique Suisse: «Damit sollten die aus den 1940er-Jahren stammenden Strafen mit den heutigen Werthaltungen in Einklang gebracht und deren Verhältnis zueinander neu ausgelotet werden.» Was bedeutet das?
In den 1940er-Jahren war das Verhältnis zwischen Eigentumsdelikten und Delikten gegen Leib und Leben ein ganz anderes als heute. In den 1940er-Jahren, in einer Zeit der wirtschaftlichen Not, wurde Eigentumsdelikten ein vergleichsweise grösseres Gewicht beigemessen als Delikten gegen Leib und Leben. Dieses Verhältnis hat sich grundlegend geändert. Körperverletzung beispielsweise wird heute im Verhältnis zu Diebstahl als sehr viel schwerwiegender angesehen als früher. Entsprechend hat man das Strafrecht jetzt angepasst.
In den 1940er Jahren wurde Eigentumsdelikten vergleichsweise mehr Gewicht beigemessen als Delikten gegen Leib und Leben.
Wenig mediale Aufmerksamkeit erhielt auch die Totalrevision des Versicherungsvertragsgesetzes, das auch schon über 100 Jahre alt war. Wie werden sich die Anpassungen auf unseren Alltag auswirken?
Die gröbsten Probleme wurden bereits 2008 mit einer Teilrevision behoben. Nun folgten weitere Anpassungen. Im finalen Gesetzesentwurf, der Anfang 2022 in Kraft getreten ist, erhalten Versicherte nun etwa das Recht, innerhalb von 14 Tagen von einem Vertragsabschluss zurückzutreten. Das ist beispielsweise bei Haustürgeschäften relevant. Den Versicherten kommt auch zugute, dass die Verjährungsfrist für Ansprüche aus Versicherungsverträgen von zwei auf fünf Jahre angehoben wurde.
Ein starkes Echo in der Öffentlichkeit hat der Anstieg des Referenzzinssatzes im Juni 2023 ausgelöst, der vielerorts zu Mieterhöhungen führte. Rückblickend auf die letzten vier Jahre: Was hat das Parlament im Bereich Mieten erreicht?
Kurz vor Legislaturende verabschiedete das Parlament in der Herbstsession 2023 drei Beschlüsse zugunsten der Vermietenden: Die erleichterte Kündigung bei Eigenbedarf, Lockerung von Formvorschriften in spezifischen Fällen – die Form von Mietverträgen ist stark reglementiert – und die Verschärfung bei der Regelung von Untermieten. Diese drei Beschlüsse sind zufällig mit der Erhöhung des Zinssatzes zusammengefallen.
Beim Thema Mieten herrscht Stillstand. Keine Seite konnte sich in den letzten vier Jahren grundlegend durchsetzen.
Lässt sich sagen, dass in den letzten vier Jahren vor allem die Vermieterseite profitiert hat?
Naja, eigentlich herrscht mehr oder weniger Stillstand und weder die Mieter- noch die Vermieterseite konnte sich wirklich durchsetzen. Beide Parteien haben in den letzten vier Jahren zahlreiche Vorstösse eingereicht – beispielsweise stand auch eine längere Kündigungsfrist für Mietende über 65 Jahren im Raum –, bei grossen Punkten fand man aber keine Einigung. Die Lockerung von Formvorschriften und die weiteren Beschlüsse ändern die Situation nicht grundlegend.
Wie gut hat das Parlament zusammengearbeitet und konnte es sich häufiger oder weniger häufig auf einen Kompromiss einigen als in früheren Legislaturen?
Für die ablaufende Session haben wir die Daten, auf deren Grundlage man diese Frage beantworten könnte, noch nicht ausgewertet. Im Buch «Konkordanz im Parlament» (2019 im NZZ Libro Verlag erschienen, Anm. d. Red.) haben Marc Bühlmann, Hans-Peter Schaub und ich für die Zeit seit 1996 ausgewertet, wie oft in der Vergangenheit Vorlagen dank einer übergrossen Koalition angenommen beziehungsweise abgelehnt wurden. Das heisst wie oft mehr Parteien, als für eine Mehrheit nötig wären, gemeinsam für oder gegen eine Vorlage gestimmt haben. Das ist ein grober Masstab dafür, wie gut das Parlament zusammenarbeitet. Die Auswertung zeigt, dass dies in 70 bis gut 80 Prozent der Abstimmungen der Fall ist. Die meisten Entscheide fallen also mit einer übergrossen und nicht mit einer sehr knappen Mehrheit und dieser Wert blieb seit Jahren sehr stabil.
In 70 bis gut 80 Prozent der Fälle stimmen mehr Parteien, als für eine Mehrheit nötig wären, gemeinsam für oder gegen eine Vorlage.
Die nationalen Wahlen stehen vor der Tür. Wer wird die Ereignisse der 51. Legislatur am besten für die eigenen Interessen nutzen können?
Ich verweise an dieser Stelle auf das Konzept des «Issue Ownership». Es besagt, dass einzelne Parteien in einzelnen Bereichen als kompetenter wahrgenommen werden als andere. Wenn ein Thema, das von einer Partei besetzt wird, vor den Wahlen sehr virulent ist, dann kann das dieser Partei durchaus nützen. Das hat man vor vier Jahren bei den Grünen gesehen: Stichwort «Klimawahl».
Zwischenfrage: Mittlerweile ist klar, dass die Krankenkassenprämien weiter steigen werden. Wer wird davon profitieren?
Das ist eben die grosse Frage. In früheren Nachwahlbefragungen zeigte sich, dass der SP im Gesundheitsbereich beispielsweise durchaus viele Kompetenzen zugesprochen werden, sie dieses «Issue» aber nicht so eindeutig besetzt, wie etwa die Grünen das Klimathema oder die SVP das Asylthema. Auch die Mitte wird mit Gesundheitsthemen assoziiert, was vielleicht auf ihre «Kostenbremse-Initiative» zurückzuführen ist. Ausserdem ist es im Vorfeld von Wahlen immer schwierig abzuschätzen, wie stark der Einfluss solcher Krisen wirklich ist.
Im Vorfeld von Wahlen ist es immer schwierig abzuschätzen, wie stark der Einfluss von Krisen wirklich ist.
Kurz gesagt: Man weiss zwar, was den Leuten Sorgen bereitet, aber es ist trotzdem schwer vorauszusagen, welche Partei davon profitieren wird?
Genau, das ist auch ein Problem für die Parteien selbst. «Issue Ownership» etabliert sich über Jahre hinweg. Es genügt nicht, vor den Wahlen ein, zwei Inserate zu schalten, um in einem Themenbereich als kompetent wahrgenommen zu werden. Eine grosse Frage für die Parteien ist also: Mit welchem Thema lässt sich eine Wahl gewinnen? Was mir aufgefallen ist: Im Sorgenbarometer, der regelmässig vom Politikforschungsinstitut gfs.bern erstellt wird, tauchten dieses Jahr mehrere Themen auf, die politisch noch nicht klar besetzt sind. Welche Auswirkungen beispielsweise der Ukrainekrieg oder der Verlust an Kaufkraft auf den Wahlausgang haben werden, lässt sich kaum abschätzen.
Aus anderen Legislaturen sind uns Kuriositäten in Erinnerung geblieben. Im Jahr 2010 bescherte uns eine Frage zum Import von gewürztem Fleisch den berühmten Lachanfall von Hans-Rudolf Merz. Gibt es humorvolle Anekdoten aus der 51. Legislatur?
Marc Bühlmann (Direktor von Année Politique Suisse, Anm. d. Red.) und ich haben anhand des Amtlichen Bulletins einmal die Zahl der Lacher im Parlament ausgewertet.1 Zwischen 1995 und 2018 kam es in gut 1 Prozent aller Reden zu einem Lacher. In der ablaufenden Legislatur sorgte Ueli Maurer überdurchschnittlich oft für Belustigung im Parlament. Er gilt als humorvoller Sprecher. Dies hat sich auch immer wieder in seinen Wortwechseln mit Jacqueline Badran gezeigt. Obwohl sie unterschiedliche politische Positionen vertreten, kommen sie anscheinend gut miteinander aus, was während der Sessionen immer wieder zu humorvollen Seitenhieben führte.
Fussnoten
[1] Heidelberger, Anja und Bühlmann, Marc (2019): «Politstil der Provokation» als Gefahr für die Konkordanz? Emotionen in parlamentarischen Debatten, in: Bühlmann, Heidelberger et al. (Hg.): Konkordanz im Parlament. Entscheidungsfindung zwischen Kooperation und Konkurrenz, NZZ Libro, Zürich, S. 257–282.
Über Année Politque Suisse
Année Politique Suisse, angesiedelt am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern, bietet seit 1965 eine präzise, sachliche und konzentrierte Darstellung der Entwicklungen in der Schweizer Politik und Gesellschaft. Die Plattform folgt einem politischen Geschäft von seiner Lancierung bis hin zu einem allfälligen Volksentscheid und dessen Umsetzung, berichtet über wichtige gesellschaftliche Kontroversen, synthetisiert praxisrelevante Studien und Berichte, verfolgt wegweisende Gerichtsurteile, Entwicklungen in der Parteilandschaft und vieles mehr.
Seit 2016 ist Année Politique Suisse als Online-Plattform der Öffentlichkeit kostenlos zugänglich. Die Forschungsstelle betreibt als zusätzliche Dienstleistung die Datenbank «Swissvotes» zu den schweizerischen Volksabstimmungen seit 1848. Année Politique Suisse ist seit 2005 ein Unternehmen der SAGW und eine von dieser langfristig finanzierte Forschungsinfrastruktur gemäss Art. 11 Abs. 6 des Bundesgesetzes über die Förderung der Forschung und der Innovation.
Der ganze Legislaturrückblick von Année Politque Suisse kann hier online gelesen werden.
Über Anja Heidelberger
Anja Heidelberger studierte Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Völkerrecht. 2017 hat sie ihre Dissertation zum Thema «Abstimmungsbeteiligung in der Schweiz» an der Universität Bern abgeschlossen. Seit 2017 arbeitet sie bei Année Politique Suisse als Co-Direktorin und ist Redaktorin zu den Themen «Öffentliche Finanzen» und «Sozialversicherungen».