Marlene Iseli
Wir haben es Anfang Monat gelesen: Es gibt Anzeichen für bahnbrechende Erkenntnisse in der Computertechnologie. Google hat, so wird spekuliert, erste Berechnungen mit einem Quantencomputer durchführen lassen und damit einen Grundstein für die Entwicklung von Rechnern gelegt, die eine gestellte Aufgabe um Welten[1] schneller berechnen können als die derzeit klassisch gebauten Superrechner. Das Potenzial ist enorm: «Chemiker könnten die Zusammensetzung von Medikamenten berechnen, statt sie Molekül für Molekül zusammenzubauen. Banken könnten Vorhersagen für das Finanzsystem treffen, Unternehmen ihre Logistik optimieren. Und IT-Sicherheitsforscher könnten neue Verschlüsselungsmethoden entwickeln – oder alle bestehenden Verschlüsselungen knacken.» (Der Bund, Googles Quantensprung, 2. Oktober 2019). Panik sei fehl am Platz, bis zur Umsetzung könnte es noch Jahrzehnte dauern.
Auf der Suche nach Errungenschaften aus den Geistes- und Sozialwissenschaften
Solche Durchbrüche in den Wissenschaften sind spektakulär. Die Idee des technologischen Fortschritts lebt, und mit ihr der Mensch, der in wohl vielerlei Fällen aus solchen Meldungen wenig Konkretes zu interpretieren weiss, und dennoch mit Staunen und Bewunderung erfüllt wird. Wie die Genschere CRSIPR stellen solche Errungenschaften perfekte Projektionsflächen dar, die zugleich Hoffnung und Ängste wecken. Als langjährige Mitarbeiterin der Akademie frage ich mich, ob es jemals schon eine solch sensationsverdächtige Forschungsmeldung aus den Geistes- und Sozialwissenschaften gab. Spontan[2] kommt mir kein Beispiel in den Sinn, also wende ich mich ironischerweise Google zu und frage den heute zufriedenstellend funktionierenden Computer kurz und bündig «breakthrough humanities», zunächst auf Englisch in der Idee, dass dies einen weiteren Radius abdeckt als den deutschsprachigen Forschungsraum. Sofort erblicke ich den Link zum «breakthrough prize» auf der Website der All European Academies, der jedoch keine geistes- und sozialwissenschaftlichen Errungenschaften auszeichnet. Bezeichnenderweise wurde der Preis von einflussreichen Unternehmerinnen und Unternehmern aus der Privatwirtschaft ins Leben gerufen.
Die alte Frage nach dem Beitrag der Geistes- und Sozialwissenschaften
Natürlich sind Forschungsziele wie der Nachbau eines menschlichen Gehirns oder die Entwicklung von Hyperloops als neue energieeffiziente Transportform auf einen Durchbruch ausgerichtet. Die Geistes- und Sozialwissenschaften streben kaum Erfindungen an. Sie reflektieren und kontextualisieren solche Entdeckungen, aber auch Grundsätze des menschlichen Denkens und Handels und darüber hinaus vieles mehr. In den 1950er-Jahren träumte man vom atombetriebenen Auto, Walt Disney gab einen Film mit dem Titel «Our friend, the atom» zum Auftakt des guten Atomzeitalters heraus. Ob die Geistes- und Sozialwissenschaften damals absehen konnten, dass ein Wertewandel sich eines Tages gegen diesen Freund wenden würde, sei dahingestellt. Ob Qualia, also ein subjektiver Erlebnisgehalt eines mentalen Zustandes, neurowissenschaftlich nachgebaut werden können, und ob diese als Phänomen überhaupt existieren, sind noch unbeantwortete Fragen. Es liegt allerdings auf der Hand, dass sich geistes- und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse in den allermeisten Fällen erst deutlich später als wegweisend entpuppen. Die erhoffte Einwirkung auf die Gesellschaft, in der Forschungsförderung als Societal Impact vermehrt ersucht, vollzieht sich nicht unmittelbar wie meist bei der Zulassung eines neuen Medikaments. Überträgt sich diese unterschiedliche Halbwertzeit des Wissens nicht grundlegend auf damit verbundene Erwartungen an die Wissenschaften? Mit diesen Gedanken stellt sich einmal mehr die Frage, was denn die Geistes- und Sozialwissenschaften zum Gemeinwohl beitragen, und wie sich diese Beiträge fassen lassen.
Die Leistungen der Geistes- und Sozialwissenschaften
2016 hat die SAGW als Antwort auf die (erneut) politisch verhandelte Nutzensfrage hin eine Website erstellt, die sich mit 18 FAQs den Leistungen der Geistes- und Sozialwissenschaften annimmt. Diese Tage soll die mittlerweise etwas brachliegende Website abouthumanities.sagw.ch mittels einer Instagram-Aktion wieder ins Gespräch gebracht werden. Der Kampf um Aufmerksamkeit im Meer von abrufbaren Informationen ist weniger Anlass dafür als die Absicht, in einer stark technologiegläubigen Ära in Erinnerung zu rufen, dass Informationen noch kein Wissen sind, Fakten ohne Interpretation nicht Entscheidungsfaktoren sein können, Kalkulationen für den Homo sociologicus weniger aussagekräftig sind als für den Homo oeconomicus.
Ideen gesucht
Nichts desto trotz stellt sich die Frage, was denn für die Geistes- und Sozialwissenschaften das Pendant zum Quantencomputer für die Computertechnologieforschung wäre? Wer eine gute Idee hat, soll sich bitte nicht scheuen, diese hier zu veröffentlichen. Wir werden die Idee auch nicht als Forschungsversprechen interpretieren. In der Zwischenzeit stelle ich diese Frage einem imaginierten Quantencomputer und erhalte als Antwort: 42[3]