Etwa zeitgleich mit Donald Trumps Einzug ins Weisse Haus haben sich eigentümlich widersinnige Reden im politischen Diskurs eingenistet. Paradoxe Formulierungen wie «alternative Fakten», «postfaktische Politik», «Postwahrheit» führen ernsthafte Zweifel daran an, dass über Tatsachen und Tatsachenwahrheiten eigentlich nicht gestritten werden kann. Zugleich wird diesem Zweifel auch vehement widersprochen. Dabei jedoch geraten immer wieder die Gefühle bzw. Emotionen in den Fokus, wird ihnen doch die Schuld an der Verwirrung zugeschrieben. Das Politische werde «emotionalisiert» und Wahrheiten nur noch «gefühlt», heisst es.
Das Gefühlsbashing findet sich sowohl im politischen wie auch wissenschaftlichen Diskurs. Und es passt auch allzu gut zur uns vertrauten «aufgeklärten» Tradition, zu unserem ungebrochenen Glauben an die Vernunft sowie die schlagende Kraft und Durchsichtigkeit vernünftiger Argumente. Meiner Diagnose zufolge liegt die Ursache der Ver(w)irrung hingegen im Verstand. Genauer im Versäumnis einer verantwortungsvollen und differenzierten Begriffsverwendung, die mit der Unterlassung einhergeht, zwischen Meinung und Manipulation, Tatsachen und Tatsachenwahrheiten zu unterscheiden. Um Gefühlen ihren angemessenen Ort im Diskurs zu sichern, bedarf es daher zunächst einer genaueren Begriffsklärung.
Fakten als «das von Menschen Gemachte»
Eine recht klare und überzeugende Unterscheidung von Tatsachen, Tatsachenwahrheiten und Meinungen findet sich in Hannah Arendts berühmtem Vortrag «Wahrheit und Politik». Als Tatsachen bzw. Fakten bezeichnet Arendt dort im ganz wörtlichen Sinne das von Menschen Gemachte, die Ergebnisse menschlicher Tätigkeiten, in diesem Sinne «Facta» (d.i. der Plural des substantivierten Partizips von lateinisch «facere», d.h. «machen»). Da Menschen nie allein leben, handelt es sich bei diesen Tat-Sachen zugleich um elementare Sachverhalte oder Ereignisse der sozialen Welt, des «menschlichen Zusammenlebens und -handelns». Dazu gehören auch elementare geschichtliche Ereignisse, wie der Generalstreik in der Schweiz vom 12.–14. November 1918 oder der Mauerfall am 9. November 1989. Über diese kann es keine Uneinigkeit geben: Sie sind, wie sie sind, «in einer nackten, von keinem Argument und keiner Überzeugungskraft zu erschütternden Faktizität.» [1]
Diese Tatsachen sind allerdings darauf angewiesen, festgehalten und erinnert zu werden. Dies geschieht mittels Tatsachenwahrheiten, worunter Hannah Arendt einfache behauptende Aussagen versteht, mit denen lediglich ausgesprochen wird, was war oder ist, also z.B.: «Am 7. Februar 1971 nahmen die Schweizer Stimmbürger das Frauenstimmrecht auf Bundesebene an.» Oder: «Am 20. Januar 2017 wurde Donald Trump als 45. Präsident der USA vereidigt.»
Die grosse Schwäche von Tatsachenwahrheiten
Dass sie auf diese Bezeugung, Fixierung und Artikulation angewiesen sind, begründet Arendt zufolge aber auch die Prekarität von Tatsachenwahrheiten: Anders als Vernunftwahrheiten, z.B. mathematische oder logische Wahrheiten (z.B. dass die Summe aus zwei Paaren vier ergibt oder dass die Aussage, dass dies von allen Dingen der Welt gilt, nur entweder wahr oder falsch sein kann), die zeitlos gelten und beliebig oft wieder-entdeckt werden können, unterliegen Tatsachen der Gefahr, vergessen oder gar verleugnet werden. Sie verschwinden, wenn es keine Zeugen oder Zeugnisse (Dokumente, Urkunden etc.) gibt oder keine Menschen, die ihnen glauben. Ihr Verschwinden wiederum ist so fatal, weil sie der Boden des Politischen sind bzw. «die eigentliche Beschaffenheit des Politischen aus[machen]».
Tatsachenwahrheiten [...] verschwinden, wenn es keine Zeugen oder Zeugnisse [...] gibt oder keine Menschen, die ihnen glauben.
Von den elementaren Tatsachenwahrheiten unterscheidet Arendt einerseits ihre Einbindung oder Verstrickung in Geschichten, die selbst immer von spezifischen Perspektiven aus erzählt werden und von Interpretationen abhängig sind. In diesen Zusammenhängen haben Tatsachenwahrheiten eine «Vetomacht», wenn sie verbürgt sind und sich daher mit ihnen offensichtlich falsche Darstellungen der Fakten, oder Geschichten, korrigieren lassen.
Meinungsbildung dient dazu, Situationen zu begreifen und mit ihnen umzugehen
Von Tatsachenwahrheiten und auch Interpretationen wiederum sorgsam zu unterscheiden sind Arendt zufolge Meinungen. Meinungen heissen bei Hannah Arendt nicht einfach alle möglichen subjektiven Ansichten. Ihr Meinungsbegriff beruht darauf, dass der Mensch zu einem und demselben Sachverhalt verschiedene Einstellungen einnehmen kann und dass sich dabei auch die mit entsprechenden Urteilen verbundenen kognitiven Fundierungen ändern. Vom Gesichtspunkt der politischen Praxis aus kommt es zudem in jedem Falle immer darauf an, je spezifische Handlungssituationen die Pluralität der daran beteiligten Menschen, die Vielfalt verwobener Interessen, Normenkonflikte etc. angemessen zu beurteilen und im Streitfalle Lösungen zu entscheiden oder vorzuschlagen.
So sind Arendt zufolge also nicht Tatsachen selbst in ihrer nackten Faktizität Gegenstände von Meinungen, sondern Fragen danach, welche Perspektiven zur angemessenen Beschreibung konkreter Situationen berücksichtigt werden müssen, welche Analysen adäquat sind, welche Prinzipien (Gleichheit, Gerechtigkeit, Freiheit?) leitend für alle oder die meisten Beteiligten sein können, welche praktischen Lösungen gut und auch machbar sind. Hier geht es darum, dass Menschen sich wechselseitig von wohlbegründeten Meinungen zu überzeugen versuchen müssen und dass Meinungen an Überzeugungskraft gewinnen, je mehr Menschen mit ihnen übereinstimmen (können).
Der Geltungsanspruch von Meinungen besteht darin, repräsentativ zu sein, das Denken anderer immer mit zu präsentieren.
Der Geltungsanspruch von Meinungen besteht darin, repräsentativ zu sein, das Denken anderer immer mit zu präsentieren. Dazu gehört, dass man eine bestimmte umstrittene Sache von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtet, d.h. sie sich so darstellen lässt, wie sie sich anderen Menschen zeigt. Sind die anderen Menschen nicht selbst präsent, sind ihre Ansichten mit Hilfe der Einbildungskraft zu fingieren und eine Meinung gewinnt an Repräsentativität, je mehr Standorte in der Welt bei ihrer Bildung durchlaufen wurden.
Die blinden Flecken der Vernunft: das Politische braucht Emotionen
Was hat das wiederum mit Gefühlen oder Emotionen zu tun? Hannah Arendt zufolge wohl nichts. Sie vertritt sogar die Ansicht, dass Politik und Emotion in einem destruktiven Verhältnis zueinander stehen.[2] Vernunft und Emotion müssen einander aber nicht dergestalt feindlich gegenüberüberstehen: Im Politischen spielen sie in meinen Augen in mindestens dreierlei Hinsicht eine zentrale und gleichwohl auch kontrollierbare Rolle.
Zum ersten ist politisches Handeln und Engagement ohne Enthusiasmus nicht möglich, d.h. ohne die Überzeugung von Menschen, dass die gemeinsame Welt eine bessere werden kann, wenn sie sich für ihre Ideale der Gerechtigkeit oder Freiheit etc. einsetzen und ihre Praxis an ihnen orientieren. Gefühlte Leidenschaft ist die Motivationskraft eines Handelns, das keinen äusseren Zwecken folgt und nicht dem Herstellungsmodell des Tätigseins entspricht.
Gefühlte Leidenschaft ist die Motivationskraft eines Handelns, das keinen äusseren Zwecken folgt.
Zum zweiten ist auch das Bedenken der Pluralität der vielen Anderen nicht möglich ohne ein gefühlsbasiertes Interesse an ebendiesen. Vernunft vermag das nicht zu begründen. Vereinfacht ausgedrückt gibt die Vernunft weder einen Grund, andere überhaupt als je eigenartige Mitmenschen anzusehen. Noch gibt sie einen Grund, mit anderen zu leben und das Zusammenleben auch auszuhalten, wenn es schwierig wird.
Zum dritten schliesslich gibt es ohne Gefühle keinen Widerstand: weder gegen Grausamkeit, noch gegen Ungerechtigkeit, noch gegen Unrecht. Es gibt eine aufschlussreiche Stelle in der Dialektik der Aufklärung, an der Horkheimer und Adorno auf eine überzeugende Kritik gegen jeden falschen, weil einseitigen Vernunftglauben aufmerksam machen. Gerade die «dunklen Schriftsteller des Bürgertums» – gemeint sind bspw. Nietzsche und de Sade – hätten auf blinde Flecken der Vernunft aufmerksam gemacht, darunter auch auf die «Unmöglichkeit, aus der Vernunft ein grundsätzliches Argument gegen den Mord vorzubringen» [3].
Nicht zuletzt deshalb sollten wir die Gefühle vor erneuten Angriffen bewahren: Mit dem Wissen um richtige Unterscheidungen und Angemessenheit.
Nicht zuletzt deshalb sollten wir die Gefühle vor erneuten Angriffen bewahren: Mit dem Wissen um richtige Unterscheidungen und Angemessenheit.
[1] Hier und in allen Zitaten beziehe ich mich auf Hannah Arendt: Wahrheit und Politik [1963]. In: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. München 1994, S. 327-370.
[2] Siehe v.a. Hannah Arendt: Über die Revolution. München 1994, Kap. 2.
[3] Max Horkheimer/ Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. In: Max Horkheimer: Gesammelte Schriften. Band 5. Frankfurt/M. 1987, S. 141f.
Dieser Text ist eine gekürzte und angepasste Version eines zuvor auf praefaktisch.de publizierten Textes. Von der SAGW-Redaktion vorgenommene Änderungen umfassen vor allem Kürzungen, Auslassungen, Titelsetzungen und Hervorhebungen.
Autorin
Zur Autorin
Peggy H. Breitenstein lehrt und forscht am Institut für Philosophie der FSU Jena v.a. zu Fragen philosophischer Gesellschaftskritik und versucht sich immer wieder an Vermittlungen zwischen zivilgesellschaftlichen Initiativen und akademischer Philosophie.
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By mo640, via flickr (CC BY-SA 2.0)
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