„Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben“, war und ist die Botschaft unseres Gesundheitsministers Alain Berset. Die zweite Welle hat uns vor Augen geführt, dass auch weitere Lockdowns in Erwägung gezogen werden müssen.
Was dies auf längere Frist für unseren Alltag bedeutet, können wir aus den Erfahrungen der letzten sechs Monaten erschliessen, die vom einschneidenden Lockdown über die Lockerungsschritte zum heutigen Regime führten.
Als Geograph ist mein Interesse speziell auf das Raum-Zeit-Gefüge gerichtet, in dem wir unseren Alltag organisieren und einrichten. Wie wir über Raum und Zeit als zentrale Ressourcen unserer Alltagswelt verfügen, bestimmt ganz wesentlich die Qualität des sozialen, kulturellen und des politischen Lebens.
Der Lockdown brach Versprechungen der Moderne
Der Lockdown im März dieses Jahres war der wohl massivste Eingriff in dieses Gefüge seit langer Zeit: Er hat die Knappheit von der «Ressource Zeit» zur «Ressource Raum» verschoben. Die Reduktion unserer Bewegungsfreiheit auf die eigenen vier Wände hat der Zeit mehr Raum gegeben. Dies ermöglichte uns, das Zeitbudget neu zu gestalten, da vor allem die Mobilitätszeiten weggefallen sind. Der verordnete Raumentzug hat vielen, längst nicht allen, höhere Effizienz in der Erwerbsarbeit gebracht, hat Familien- und Kinderzeit erweitert, und Zeitautonomie geschaffen, die wir aus dem normalen Alltag kaum mehr kannten. Diese Erfahrung lehrt uns, dass das Raum-Zeit-Gefüge als Ordnungsraster unseres Alltags veränderbar ist, ob auferlegt oder freiwillig. Wir haben erfahren, welche Möglichkeiten sich daraus neu eröffnen oder auch wegfallen können. So etwa der Rückzug auf sich selbst und das intensive Zusammenleben mit den Nächsten, oder aber der Verlust sozialer Kontakte und der Regulierung sozialer Verhältnisse durch Ortswechsel.
Damit waren zwei grosse Versprechen der Moderne in der Lockdown-Zeit kaum mehr zu erfüllen: der freie, d.h. unbehinderte und weitgehend unüberwachte Zugang zum öffentlichen Raum und die freie, unbegrenzte Mobilität. Der Raum-Zeit-Kontext unserer Alltagswelt wurde auf die eindimensionale Distanz reduziert. Distanzhalten wurde zum zentralen Regulativ der sozialen Welt. Die Fixierung auf dessen Einhalten hat zwar vieles vereinfacht, aber auch vieles genommen.
Wir sind dabei, ein anderes Raumgefühl zu erwerben, das sich darin zeigt, dass wir uns schneller bedrängt fühlen.
Soziale Grenzen und Räume haben sich verschoben
Der Lockdown hat zudem die Grenzen zwischen Ich – Wir – den Andern verschoben. Schon die Grenze zwischen «Ich» und «Wir» – also jenen, die uns am nächsten stehen – wurde enger gezogen. Das Verhältnis zu «den Andern» wurde undifferenziert und vor allem durch die Zuschreibung einer möglichen Bedrohung definiert. Dass die Begegnung mit dem Andern und dem Fremden unterbunden wurde, hat unseren sozialen und geographischen Horizont begrenzt.
Durch den auferlegten Entzug vieler Innen- und Aussenräume wurde uns bewusst, wie sehr wir «face to face-Kontakte» und die Kopräsenz von anderen Menschen brauchen. Oder wie die britische Geographin und Sozialwissenschaftlerin Doreen Massey (2005) treffend geschrieben hat:
Space presents us with the existence of others […].
Wenn wir über Bilder und Text in der digitalen Welt heute eine technische Alternative bzw. ein Substitut haben, so ist der Entzug der Kopräsenz und Körperlichkeit in der zwischenmenschlichen Kommunikation ein grosser Verlust.
Raumkontraktion und Zeitdilatation verändern unser Denken
Viele beschrieben die entstandene Leere, die leeren Plätze, Strassen und öffentlichen Gebäude als das Auffallendste im Lockdown. Das macht uns bewusst, dass gebaute Räume nicht aus sich heraus Bedeutung haben, sondern erst dadurch Bedeutung erlangen, dass wir sie einräumen, beleben und von ihnen Gebrauch machen. Fällt das weg, wird der öffentliche Raum zur leeren Theaterbühne, wo die Erzählung der Geschichte des gesellschaftlichen Lebens unterbrochen wird. Durch die ständige Aufforderung zum Distanzhalten wird der öffentliche Raum aufgeteilt in Privatsphären, d.h. teilprivatisiert.
Wenn wir Kants Aussage folgen, dass Raum und Zeit elementare Voraussetzungen unseres Denkens sind, ohne die wir gar keine Ordnung in unsere Vorstellung von Welt bringen können, dann verschiebt die mit dem Lockdown erfolgte Raumkontraktion und Zeitdilatation unser Koordinatensystem des Denkens. Das zeigt sich im Alltag darin, dass Tätigkeitsfelder neu organisiert und neu priorisiert wurden und werden.
Die Auswirkungen von Lockdowns auf Raum und Zeit sind bedeutend
Bei der Absicht, erneut ein oder in Abfolge mehrere Lockdowns zu verordnen, um die exponentiell wachsenden Ansteckungen zu bremsen, ist aus diesen Erfahrungen und Überlegungen Folgendes zu bedenken:
- Ein Lockdown entzieht uns wichtige Ressourcen der Alltagsgestaltung und verändert unser Verhältnis zu Raum und Zeit.
- Raum wird zur knappen Ressource, weil die Schauplätze des täglichen Lebens sich auf einen oder wenige Orte beschränken.
- Zeit entleert sich durch den Wegfall der Mobilität, der normalen Arbeits- und der sozialen Zeit und wird zur Ressource einer anderen Alltagsgestaltung.
- Der öffentliche Raum wird neu vermessen durch Distanzhalten und kurze Begegnungszeiten; er verliert dadurch seine zentrale Funktion als Ort der Vergesellschaftung und wird teilprivatisiert.
- Ein Lockdown entzieht uns die Hauptbühnen und realen Orte des politischen, sozialen und kulturellen Lebens.
Die Verhängung eines Lockdowns, so meine Folgerung, ist deshalb nur solange und so oft wohl möglich, als er mit dem Entzug zentrale Ressourcen unserer Alltagsgestaltung nicht breite Ablehnung erzeugt, die dann von radikalen Gruppen für ihre Zwecke instrumentalisiert wird.
Dieser Beitrag erschien in gekürzter Version am 4. November 2020 als Abo+ Artikel bei "der Bund" (Artikel mit Paywall): https://www.derbund.ch/wie-der-lockdown-unsere-orientierung-veraendert-488690035526