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Glaube in einer säkularen Gesellschaft: aus der Praxis der Gefängnisseelsorge

Andreas Schwendener, Theologe und Gefängnisseelsorger
Gesellschaft – Kultur – Sprache

Der oft theoretische Diskurs um Religionen steht im erlebten Kontrast zur Praxis der Gefängnisseelsorge, finanziert zu gleichen Teilen von Staat und Kirche.

Religionen haben heute eine schlechte Presse. Angeprangert wird deren Unzeitgemässheit (Zölibat, Burka, Beschneidung, Traditionalismus, …) oder deren Gefährlichkeit (IS, Scharia, Ghettobildung …). Dieser oft theoretische Diskurs steht im erlebten Kontrast zur Praxis der Gefängnisseelsorge, finanziert zu gleichen Teilen von Staat und Kirche.

Die Anpassung der Religionen an die Neuzeit brachte und bringt sich widerstreitende Religionstypen hervor. In allen Religionen gibt es die Konservativen, die sich primär in der eigenen Tradition sicher und beheimatet fühlen. Die modernen Wissenschaften haben dazu geführt, dass es auch den Typus des Distanzierten gibt. Glaube spielt für sie kaum eine Rolle oder wird explizit abgelehnt. Und es gibt in allen Religionen Menschen, die aus ihrer Tradition in erster Linie ein Ethos vernehmen, und für die Bräuche und Gesetze sekundär sind.

Die allgemeine Religion?

Diese letztgenannten Ansätze einer allgemeinen Religion sind meiner Erfahrung nach weit verbreitet, was aber im aktuellen Diskurs um Religionen wenig beachtet wird. Dabei stand am Anfang der Neuzeit die religiöse Frage durchaus noch im Zentrum der Philosophie und damit auch der Wissenschaften. Auf der Suche nach der «Religion an sich» sprach Friedrich Schleiermacher (1768-1834) von «Sinn und Geschmack für das Unendliche», Paul Tillich (1886-1965) von dem, «was den Menschen unbedingt angeht». Während hier Theologen das Religöse für die säkulare Welt zur Sprache bringen, gab es auch «Laien», die den umgkehrten Weg gingen und das Religiöse im Kosmos der Wissenschaften entdeckten und der Theologie so eine Brücke zur Moderne bereiten wollten.

Der vergessene Schweizer Arzt und Philosoph Ignaz Paul Vital Troxler (1780 – 1866) entdeckte und entfaltete die religiöse Dimension (Logos) über seine philosophische Anthropologie als Zentrum der Wissenschaften. Seine Sicht des Menschen als Körper, Leib, Seele und Geist entfaltete er 1830 in einer Metaphysik, einer dreibändigen Logik und später auch in einer Enzyklopädie der Wissenschaften. Für mich selber wurde und blieb diese anthropologische Begründung des Glaubens wichtig, vor allem in der Gefängnisseelsorge, wo ich mit Menschen aus vielen Religionen zu tun habe.

So sehr unsere Gesellschaft säkularisiert ist, so kennen und schätzen doch die meisten Menschen die Funktion des Geistlichen. Und jeder Mensch hat durchaus ein Gespür dafür, wie ein Geistlicher dieses Amt ausfüllt. Man liest Gesicht, Kleidung, Haltung, Färbung der Stimme usw. – und das in Sekundenschnelle. Wenn in der Gefängnisseelsorge ein Muslim meine Selbstpräsentation als Pfarrer oder «pastore» nicht versteht, sage ich auch mal, ich sei wie ein Imam, aber christlicher Seelsorger. Kürzlich definierte ich mich im multikulturellen Umfeld der Gefängnisseelsorge deshalb als «Mensch der Religion». In dieser Rolle muss ich in zweifacher Weise überzeugen: Es muss für mein Gegenüber erfahrbar werden, dass ich Religion auf einer Ebene vertrete, die Menschen verschiedener Kulturen verbindet und ich muss die spezifische Konfession meines Gegenübers kennen – am besten durch eigene Erfahrungen.

Gefängnisseelsorge: Philosophisch und interreligiös

Die Arbeit der Gefängnisseelsorge fordert tendenziell dazu heraus, das Amt in dieser interreligiösen, ja philosophisch-anthropologischen Sicht von Religion auszuüben. Analog hat die säkulare Schule damit angefangen, das Fach «Religion» selber zu unterrichten. Die Forderung, jedem Inhaftierten einen Seelsorger seiner Religion zu gewähren, würde demnach von der moderneren Vision eingeholt, bei der institutionellen Gefängnisseelsorge auf Bildung und Kompetenz in Sachen «Religion schlechthin» zu setzen.

Bei der so verstandenen Seelsorge ginge es darum, jeden in seiner eigenen Tradition zu bestärken, sei es durch Gespräche oder bereitgestellte Literatur … und bei Auswüchsen kritisch nachzufragen. Ich ermuntere die Leute, die Haftzeit im Sinne ihrer Religion zu nutzen und die eigenen Heiligen Schriften im Original zu lesen, Sekundärliteratur zu studieren oder diese oder jene Praxis auszuprobieren. Zwar kenne ich in dieser Rolle auch Gebete, Rituale und Zeichen. Ich praktiziere diese als «Mensch der Religion» jedoch in einer Offenheit und Beweglichkeit, wie das Traditionen nicht vorsehen, aber durchaus ermöglichen und fördern können.

Gefährdete säkulare Weltsicht

Die säkulare Welt wehrt sich gegen die archaischen Züge der Religionen, kann dabei aber kaum vermittelnde Alternativen bieten und läuft so in Gefahr, bei den Glaubenden aller Welt unglaubwürdig zu werden. So wäre das säkulare Projekt gefährdet. Aus der Praxis der Gefägnisseelsorge wird jedoch erfahrbar, dass Menschen auch in kritischer Distanz zu ihrer Religion mit dem «Unendlichen» leben. Sie wollen in ihrem je individuellen Gottesverhältnis bestärkt werden. Sie sind interessiert und offen für geistliches Wachstum.

Darum der Appell an die säkularen Wissenschaften: Vergesst nicht die Frage nach der Identität des Menschen in seiner umfassenden Bezogenheit. Meines Erachtes käme hier der Philosophie die Aufgabe zu, das Ganze – auch im Dienst der neuzeitlichen Wissenschaften – immer wieder neu in den Blick zu bekommen und es zu denken. Denn nicht nur die religiöse Praxis, auch Kunst und Kulturwissenschaften zeigen auf, dass die geistigen Dimensionen zum Menschen und so auch zur Wissenschaft gehören.

Der Autor: Andreas Schwendener

Andreas Schwendener (geb. 1954) studierte nach einer längeren Indienreise Theologie, war Pfarrer in Bütschwil-Mosnang (1989-1995) und Chefredaktor des St.Galler Kirchenboten (1995-2018). Aktuell arbeitet er noch in einem Teilpensum als Gefägnisseelsorger im Regionalgefängnis Altstätten, in der offenen Strafanstalt Saxerriet, im Ausschaffungsgefängnis Bazenheid und im Jugendheim Platanenhof in Oberuzwil. Seine theologische Schlussarbeit schrieb er über I.P.V. Troxler: «Christus – Logos: Grundstein auch der Wissenschaften».

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