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Wissenschaft macht Politik

Auf welchem Weg können sich Forscherinnen und Forscher in die Politik einbringen? Diese Frage wird kontrovers diskutiert. Eine Auslotung in Zitaten.

Wissenschaft war immer schon politisch. Historisch kennt sie ganz verschiedene Figuren: den Berater, die Kritikerin, die Expertin, den Aktivisten. Diese früher ausdifferenzierten Rollen sind heute kaum mehr voneinander zu unterscheiden. Davon zeugen auch die an- und aufgeregten Debatten darüber, ob und wie Forscherinnen und Forscher sich in die Politik einmischen dürfen und sollen: Für die einen agieren sie angesichts der grossen Krisen viel zu zögerlich, für die anderen sollten sie sich zurückhalten oder sich auf eine Mitarbeit in den etablierten demokratischen Verfahren beschränken, als eine Stimme unter vielen.

Zwischen Elfenbeinturm und Strasse

In den letzten Jahren haben sich zahlreiche neue Gruppierungen von Wissenschaftler·innen gebildet, die direkt und proaktiv zur gesellschaftspolitischen Meinungsbildung beitragen wollen, darunter in der Schweiz die Ideenschmiede «Reatch» (2014 gegründet), der Think Tank «Penser la Suisse» (2017), die Vereine «CH++» (2021) und «Degrowth Switzerland» (2021) oder auf internationaler Ebene die Aktivistengruppe «Scientist Rebellion» (2021), eine Schwesterorganisation von «Extinction Rebellion», die angesichts eines klimatischen und ökologischen Notstands zu zivilem Ungehorsam aufruft.

Die genannten Organisationen, so unterschiedlich sie sind, haben Gemeinsamkeiten: Sie sind keine strikt an disziplinären und geografischen Grenzen orientierte Fachgesellschaften, auch keine von akademischen oder staatlichen Autoritäten ernannte «Gremien der Weisen», sie tragen keine jahrzehntelangen Traditionen mit sich. Vielmehr handelt es sich um eher lose, offene und flexible Gruppierungen, Plattformen und Netzwerke von Forscherinnen und Forschern, die eine Verantwortung spüren, in Politik und Gesellschaft etwas zu verändern. Stets geht es dabei nicht bloss um brave Wissenschaftskommunikation, sondern um Wissenschaft als eine genuin kritische Tätigkeit, die zunächst den Status quo infrage stellt.

Vier Fragen zum politischen Aktivismus von Forschenden

Auf einem Online-Podium vom 19. Oktober, organisiert von Reatch, wurden die Rollen und die Selbstverständnisse von Forschenden in politischen Debatten ausgelotet. Davon ausgehend haben wir in Zitatform Antworten zu vier brennenden Fragen zusammengestellt:

1. Haben Forscher·innen eine Verantwortung zu öffentlichem Engagement?

Sitôt que l’on écrit, sitôt que l’on prend la décision de publier, de chercher, de créer, tout change. Se lancer dans de telles activités suppose d’avoir décidé […] de faire partie des producteurs d’idées, de faire circuler des discours, et donc de contribuer à façonner le cours du monde. Par conséquent, à ce moment-là, nous avons choisi de nous engager. Nous sommes engagés dans quelque chose. Et là, nous ne pouvons plus reculer et nier la dimension politique de notre action.

Geoffroy de Lagasnerie, Philosoph, Autor von «Penser dans un monde mauvais» (2017)

There is not always an imperative to do policy-relevant research. But if you do, you should act somehow accordingly.

Tanja Rechnitzer, Philosophin, Vorstandsmitglied von Reatch

There have always been researchers who did great research without any political relevance or goals at that moment.

Caspar Hirschi, Historiker, Autor von «Skandalexperten, Expertenskandale» (2018)

For what we need now, the limiting factor is political will and not a lack of data.

Anaïs Tilquin, Evolutionsbiologin, Aktivistin bei «Renovate Switzerland»

2. Wer soll über zukunftsweisende Fragen entscheiden, zum Beispiel in Bezug auf den Klimawandel?

Scientists cannot make the decisions. We live in a democracy and not in a technocracy.

Tanja Rechnitzer

I think it’s ok to show the options and to argue for one of them, but the decision has to be made by the decision makers.

Cyril Brunner, Klimaforscher an der ETH Zürich

It is really important for experts to know when they are helping and when they are making things worse – and if they don’t know the difference, maybe to slow down and figure that out.

Roger Pielke, Umweltwissenschaftler, Autor von «The Honest Broker» (2007)

Wenn ganz viele Disziplinen von Beginn an einbezogen werden, dann hat es die Politik nicht mehr so leicht zu sagen, die Wissenschaft sagt uns dies oder das, sondern sie muss dann viel stärker zu ihrer Verantwortung stehen, dass sie es ist, die Werteprioritäten abwägen muss.

Caspar Hirschi

3. Braucht es ständige wissenschaftliche Taskforces, zum Beispiel eine Klima-Taskforce?

Vonnöten sind nicht grundsätzlich neue Institutionen, sondern Kooperationsmechanismen innerhalb des gesamten BFI-Netzwerks sowie hin zur Politik, die verbindlicher ausgestaltet sind als heute.

Karin Ammon, Marcel Falk, Jürg Pfister, Schweizerische Akademie der Naturwissenschaften

I would be careful with the Taskforcisation of government. I think the impact of Taskforces is limited, at least as long as they are pure advisory bodies. More interesting in my opinion is the integration of scientists directly in politics and the administration.

Marcel Salathé, Epidemiologe, ehemaliges Mitglied der nationalen Covid-19-Science-Task-Force, Mitgründer von CH++

4. Ist Aktivismus kontraproduktiv?

The public really, really needs to see scientists freak out and take risks.

Anaïs Tilquin

Historically, civil disobedience was often related to issues that were not yet on the agenda, to highlight problems that had not been discussed yet. I am doubtful that the very provocative actions of scientists in the public space help advance interests that already have significant political representation.

Caspar Hirschi

Je sais que mon vocabulaire belliqueux pourra froisser. Mais, dans ce cas, il ne peut être question que de combat. Car nous avons un adversaire; non pas les lois de la physique atmosphérique, bien sûr, mais un ennemi bien plus sournois et dangereux: au niveau de nos économies, nos industries, nos idéologies, notre culture, notre histoire, notre compréhension et vision de nous-même. C’est exactement pour cette raison que les sciences humaines et sociales sont si importantes.

Julia Steinberger, Professorin für ökologische Ökonomie, Umweltaktivistin, Mitautorin des IPCC-Klima-Berichts von April 2022

Ressourcen

Allea: Interview with Roger Pielke, 9. August 2022.

Ammon, Karin, Marcel Falk und Jürg Pfister (2022): Science Advice Network (Swiss Academies Communications 17,8). https://doi.org/10.5281/zenodo.6641588  

Hirschi, Caspar (2018): Skandalexperten, Expertenskandale. Zur Geschichte eines Gegenwartsproblems, Berlin.

Hirschi, Caspar: Expertise in Krisenzeiten: zur Absturzgefahr im Bermudadreieck von Wissenschaft, Medien und Politik, Vortrag bei der Rudolf Augstein Stiftung, 8. November 2021. https://youtu.be/JbTnZd51IOI

Lagasnerie, Geoffroy de (2017): Penser dans un monde mauvais, Paris.

Pielke, Roger (2007): The Honest Broker. Making Sense of Science in Policy and Politics, Cambridge.

Reatch: Academics, Advisors, Activists? The role of scientists in politics, Online discussion with Marcel Salathé, Tanja Rechnitzer, Cyril Brunner, Caspar Hirschi, Anaïs Tilquin and Servan Grüninger, moderated by Servan Grüninger, 19 October 2022: https://reatch.ch/en/events/academics-advisors-activists

SAGW (2022): Alternativen: Zukunftswelten imaginieren und gestalten | Alternatives : imaginer et remodeler les mondes de demain (Bulletin der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften 28,2). https://doi.org/10.5281/zenodo.7104107