Bern, 25.11.2021 – Die Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) besteht seit 75 Jahren. Nun liess sie ihre Geschichte aufarbeiten. Das Jubiläumsbuch schildert den langen Weg von den bescheidenen Anfängen zur anerkannten und breit vernetzten Akademie im Kontext des Schweizer Wissenschaftssystems. Eine Erfolgsgeschichte? Auf jeden Fall ein bislang wenig bekanntes Stück Schweizer Wissenschaftsgeschichte.
Am 25. November 1946 gründeten zehn wissenschaftliche Gesellschaften in Zürich die «Schweizerische Geisteswissenschaftliche Gesellschaft» (SGG). Aus diesem Kern entwickelte sich die heutige SAGW. Es war ein langer Weg von den bescheidenen Anfängen bis zur heutigen breit vernetzten nationalen Akademie mit 62 Mitgliedsgesellschaften und zugleich wichtigen Trägerin von Forschungsinfrastrukturen in der Schweiz.
Eine Gesamtdarstellung dieser Geschichte fehlte bislang. Das Buch «Zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik – 75 Jahre Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften» schliesst diese Lücke (zur Online-Publikation geht es hier). In neun chronologischen Kapiteln mit jeweils einem thematischen Schwerpunkt wird die Rolle der Akademie in der schweizerischen Wissenschaftslandschaft ausgeleuchtet und die grossen Linien seit ihren Anfängen Mitte der 1940er-Jahre bis heute nachgezeichnet: von der «Gründung in schwieriger Zeit», über die «ersten Schritte in der Forschungspolitik» und die «goldenen Jahre der Sozialwissenschaften» bis zu den «Herausforderungen der Gegenwart».
Das Buch ist im Auftrag der SAGW entstanden und erscheint im traditionsreichen Wissenschaftsverlag Schwabe in Basel, in dessen Programm es bestens aufgehoben ist. Recherchiert und verfasst hat das Buch die Zürcher Historikerin Monika Gisler unter Mitwirkung von zwei Mitarbeitern und dem «Center for Higher Education and Science Studies» der Universität Zürich. Die Recherchearbeiten und die Abfassung des Manuskripts fielen zu grossen Teilen in die Phase des zweiten Lockdowns. Dass das Buch nun trotz erschwerten Bedingungen und teilweise eingeschränktem Zugang zu den Archiven ohne inhaltliche Abstriche fristgerecht erscheinen kann, ist keine Selbstverständlichkeit.
Verankerung im Vereins- und Milizwesen
Die Autorin und ihre Mitarbeiter stellen Informationen und Quellenmaterial aus der institutionellen Geschichte in einen grösseren Kontext und fördern immer wieder auch Überraschendes zutage: etwa die internationalen und teilweise schillernden Biografien von Akteuren der Gründungszeit, wie Max Wassmer (1887–1970), Hans Nabholz (1874–1961), Eduard Fueter (1908–1970) oder Paul Edmond-Martin (1883–1969), die massgebliche Beteiligung der SGG an der Entstehung des Schweizerischen Nationalfonds ab 1948 oder die Verankerung der Schweizer Akademien im Vereins- und Milizwesen, was sie von ihren europäischen Schwesterakademien in Frankreich, Deutschland oder England grundlegend unterscheidet. «Die Basis aus Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftlern und interessierten Laien ist einzigartig», sagt das langjährige Vorstandsmitglied Oskar Bätschmann im Zeitzeugen-Gespräch.
«It’s the humanities, stupid!»
Als roter Faden durch das Buch zieht sich das Ringen der SAGW um ein besseres Standing der Geisteswissenschaften gegenüber den Natur- und Technikwissenschaften, um Anerkennung und Fördermittel: «Als zunächst unbekannte Akteurin auf Bundesebene hatte sie sich verschiedentlich gegen Interessengruppen zu behaupten, die auf das Primat von Natur- und Technikwissenschaften pochten und die Geistes- und Sozialwissenschaften am liebsten ins Abseits katapultiert hätten.» (S. 11) Aus jüngerer Vergangenheit hebt das Buch die Kampagne «It’s the humanities, stupid!» hervor, mit der die SAGW als Anwältin der Humanwissenschaften 2016 gegen den wachsenden Technokratieglauben in Politik, Verwaltung und Gesellschaft antrat (S. 168).
Erfolge mussten erstritten werden
Das Wissenschafts- und Forschungssystem ist ab den 1960er-Jahren rasant gewachsen. Dass die SAGW sich in diesem Umfeld behaupten konnte, ist beachtenswert. Auch dies zeigt das Buch. Die formale Anerkennung durch den Bund 1983, die Integration der Sozialwissenschaften ab den 1980er-Jahren, ihre Rolle als Enablerin von Forschungsunternehmen wie dem sozialwissenschaftlichen Grossprojekt «Demain la Suisse» in den 1990er-Jahren, die Etablierung von Forschungsinfrastrukturen wie dem Historischen Lexikon oder den Nationalen Wörterbüchern unter ihrem Dach: All diese Initiativen und Erfolge fielen nicht vom Himmel, sondern mussten mit langem Atem erarbeitet und mitunter auch hartnäckig erstritten werden.
Zwei Ratschläge für die Jubilarin
Das Buch «Zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik» ordnet die Geschichte der SAGW konsequent in ihren wissenschaftspolitischen Kontext und ins Umfeld des Schweizer Akademienverbunds ein. Sie geht somit über eine reine Institutionengeschichte hinaus und leistet einen wichtigen Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der Schweiz seit den 1930er-Jahren. Am Ende gibt die Autorin der Jubilarin zwei Ratschläge mit auf den Weg: Um «Sinn und Zweck der Geistes- und Sozialwissenschaften wirkmächtig zu vermitteln», könnte sie ihre Stimme «durchaus noch lauter» erheben; zudem solle sie ihr Potenzial nutzen und in unserer «postfaktischen Ära», in der alle Wissenschaften am Pranger stünden, zeigen, dass Wissenschaft «eine genuin soziale Angelegenheit» sei.
Hintergrundinfos und Kontakt
Die Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) ist eine Organisation der nationalen Forschungsförderung gemäss Bundesgesetz und Mitglied des Verbunds der Akademien der Wissenschaften Schweiz. Die Publikation «Zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik» entstand im Rahmen ihres 75-Jahr-Jubiläums. Sie wurde von einer fünfköpfigen Arbeitsgruppe begleitet. Die verlegerische Betreuung der Publikation übernimmt der traditionsreiche Wissenschaftsverlag Schwabe in Basel.
SAGW
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Wissenschaftlicher Redaktor
Tel. 031 306 92 52
heinz.nauer(at)sagw.ch
Schwabe-Verlag
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Presse und Marketing
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nina.brennecke(at)schwabeverlag.de
Bibliografische Angaben und Open Access
Gisler, Monika (2022): Zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik – 75 Jahre Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften. Unter Mitwirkung von Samuel Amstutz, Christian Leder und Mitarbeitenden des Center for Higher Education and Science Studies der Universität Zürich, Schwabe Verlag, Basel.
Das Buch ist Open Access online im Volltext verfügbar: https://doi.org/10.24894/978-3-7965-4421-7
Es ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz – CC BY 4.0.
Podiumsdiskussion am 3. Dezember
75 Jahre SAGW: Was konnte die Akademie erreichen – und was nicht?
Die Buchpublikation «Zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik» ist Anlass für eine Podiumsdiskussion. Mit Blick auf ihr Motto «Vernetzen – Vermitteln – Fördern» fragen wir: Was konnte die SAGW in den letzten 75 Jahren erreichen – und was nicht?
Es diskutieren:
- Rahel C. Ackermann, Leiterin Inventar der Fundmünzen der Schweiz (IFS), Unternehmen der SAGW
- Monika Gisler, Historikerin, Autorin der Jubiläumspublikation
- Dieter Imboden, ehem. Präsident Schweizerischer Nationalfonds
- Wolf Linder, ehem. Mitglied Schweizerischer Wissenschaftsrat, Vorstand SAGW und Forschungsrat SNF
- Claudia Appenzeller (Moderation), ehem. Generalsekretärin Akademien der Wissenschaften Schweiz
Die Veranstaltung findet in hybrider Form im Veranstaltungsformat «Science after Noon» der Akademien Schweiz statt. Die Diskussion wird als Livestream übertragen.
Bildnachweise
- Eröffnungssitzung Nationalfonds: KEYSTONE/PHOTOPRESS-ARCHIV/Hermann Schmidli/Max Kraft, August 1952
- Max Wassmer mit Hermann Hesse: Foto Martin Hesse, 1949, ©Martin Hesse Erben
- Grundüngspräsident Paul-Edmond Martin: Schweizer Illustrierte Zofingen, 1952
- Jahresversammlung 1982 in Neuenburg: SAGW-Bildarchiv