Vielleicht gab es einmal eine Welt, in der Wissenschaftler Forschungsdaten fein säuberlich in Faszikeln und Zettelkästen, Lochkarten und Ringordnern ablegten und alles seinen Ort hatte. Doch falls es diese Welt jemals gab, ist das lange her. In den letzten Jahrzehnten hat die Digitalisierung die Arbeitsweisen in den Wissenschaften grundsätzlich verändert und neue Ansprüche hervorgebracht. Einer davon ist Open Science, der Gedanke, den gesamten wissenschaftlichen Prozess möglichst offen, transparent und frei zugänglich zu gestalten. Wenn Daten der Rohstoff des 21. Jahrhunderts sind, dann sind Forschungsdaten sein Tafelsilber.
Offene Forschungsdaten als Bestandteil wissenschaftlicher Integrität
Forschungsdaten «in geeigneter Weise» und gemäss internationalen Standards wie den Fair-Data-Principles aufzubewahren, gehört zur wissenschaftlichen Integrität. Genauso, dass die Universitäten und Förderorganisationen Infrastrukturen bereitstellen, um Forschungsdaten langfristig und öffentlich zugänglich und nutzbar zu halten. Doch stehen die Institutionen und vor allem die einzelnen Forscherinnen und Forscher diesen Ansprüchen bisweilen etwas alleine gegenüber. Vielerorts sind mittlerweile Open-Access-Policies für Poblikationen etabliert, ein koordinierter Umgang mit «Open Research Data» (ORD) hingegen ist in den Köpfen und vor allem in den Strukturen hingegen noch weit weniger verankert, wie eine Umfrage zeigt, die Swissuniversities 2020 bei 44 Schweizer Wissenschaftsinstitutionen durchführte.
Ein Bündel von Massnahmen soll zum Take-off verhelfen
Mehrere Schweizer Wissenschaftsorganisationen streben nun einen Kulturwandel im Umgang mit Forschungsdaten an und legen einen umfangreichen Aktionsplan mit einem Bündel von Massnahmen vor, die zum Take-off verhelfen sollen. Der Aktionsplan konkretisiert die 2021 verabschiedete ORD-Strategie. Der Aktionsplan ist breit abgestützt und wird getragen von Swissuniversities, dem Akademienverbund, dem ETH-Rat und dem Schweizerischen Nationalfonds. Die strategische Leitung übernimmt ein neunköpfiges Strategy Council, das aus Mitgliedern aller beteiligten Institutionen besteht.
120 Millionen für den Kulturwandel
Zum Kulturwandel gehört nach der ORD-Strategie die Anerkennung durch die Hochschulen und Förderorganisationen, dass auch nach Abschluss eines Forschungsprojekts Kosten für Erhalt und Kuration von Daten anfallen können. Der Übergang zu ORD ist nicht gratis zu haben: Gemäss Aktionsplan belaufen sich die Bundesmittel, die in der ersten Phase von 2022–2024 insgesamt aufgewendet werden, schätzungsweise auf rund 120 Millionen Franken (inklusive in den Institutionen budgetierte und gebundene Infrastrukturkosten). Davon stammen rund 32 Millionen aus dem Open-Science-Programm von Swissuniversities. Sie können für neue Massnahmen gemäss Aktionsplan aufgewendet werden. Zudem sind auch Ausschreibungen geplant.
Aktionsplan stärkt Forschende punkto Ausstattung und Kompetenzen
Der Aktionsplan verfolgt vier Hauptziele (die in «Aktionsfelder» und zahlreiche «Aktionslinien» aufgefächert sind):
- Unterstützung der Forschenden und Forschungsgemeinschaften bei der Konzeption und Umsetzung von ORD-Praktiken
- Entwicklung, Förderung und Erhaltung von finanziell nachhaltigen, Basis-Infrastrukturen und -Dienstleistungen für alle Forschenden
- Ausstattung der Forschenden im Hinblick auf ORD: Kompetenzentwicklung und Austausch von Best Practices
- Aufbau von systemischen und unterstützenden Rahmenbedingungen für Institutionen und Forschungsgemeinschaften
Herausforderungen für die Geisteswissenschaften
Die Achtung der disziplinären Vielfalt ist ein Grundprinzip der ORD-Strategie. Forschende sollen «die Freiheit haben, diejenigen ORD-Verfahren umzusetzen, die für die betreffende akademische Gemeinschaft angemessen sind», wobei die verschiedenen Communities sich in ganz unterschiedlichen Stadien bei der Koordination von ORD befinden. Und gerade den Geisteswissenschaften wird bisweilen vorgeworfen, dass es in ihren Reihen an IT-Kenntnissen fehle – ein Mangel, dem der ORD-Aktionsplan unter anderem mit gezielten Weiterbildungen von Forscherinnen und Forschern und institutionellen Datenkuratoren («Data Stewards») begegnen möchte.
Eine nicht weniger grosse Herausforderung besteht für die Geisteswissenschaften darin, dass ihre Daten stark kontextabhängig sind und die Materialität in der Interpretation ihrer Quellen – seien es Bilder, Texte, Objekte oder Gebäude – oft eine entscheidende Rolle spielt und sich nicht ohne Weiteres ins Digitale übersetzen lässt. Zwar gibt es mit dem «Data and Service Center for the Humanities» (DaSCH, seit 2013) oder für die Sozialwissenschaften SWISSUbase (seit 2021, in Nachfolge von FORSbase) bereits communityspezifische Infrastrukturen, die sich dieser Problematik bewusst sind. Doch befinden wir uns – bei allen Neuerungen – nach 30 Jahren Internet in einer digital fragmentierten Landschaft wieder, wir leben immer noch in der «digitalen Inkunabelzeit», wie es der Historiker Peter Haber einmal formulierte. Der ORD-Aktionsplan hingegen steht für den Willen zur Koordination und zur Kooperation über disziplinäre Grenzen hinweg.
Kooperation von vier grossen Wissenschaftsorganisationen
Die Ausarbeitung von ORD-Strategie und Aktionsplan erfolgte im Auftrag des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation. Federführend war der Dachverband der Schweizer Hochschulen Swissuniversities. Die Umsetzung erfolgt in breiter Kooperation: Die beteiligten Institutionen sind neben Swissuniversities der Akademienverbund, der Schweizerische Nationalfonds und der ETH-Rat. Grundlagen und weiterführende Informationen stehen auf der Seite von Swissuniversities zum Download zur Verfügung.